Kiewer Kunst im Nebel des Epochenwandels: Auf dem Lenin-Sockel ruht ein Dreizack, die Blauhand hat der Rumäne Bogdan Raa beigesteuert.

Foto: Höller

Den amtierenden ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und seinen Herausforderer Wladimir Selenski, dessen Sieg bei den Stichwahlen am 21. April bislang als wahrscheinlich gilt, unterscheidet nicht nur politische Erfahrung oder Alter. Auch in stilistischen und ästhetischen Fragen trennen die beiden Welten.

Zwar bleibt beim Fernsehkabarettisten und -produzenten Selenski, den Gegner auf einen "Komiker" reduzieren, einstweilen vieles unklar. In Videos und sporadischen Auftritten inszeniert er sich jedoch als zeitgenössischer und ästhetisch westlicher als sein Konkurrent Poroschenko, der sich seinerseits als wichtigster Proponent einer politischen Westorientierung des Landes positioniert.

Am Rande des ersten Wahldurchgangs Ende März hätte der Kontrast nicht deutlicher sein können: Selenski hatte sich in den Barbereich eines Geschäftszentrums eingemietet. Hier generierten seine Wahlkämpfer eine Lounge-Atmosphäre mit Tischtennis und interaktiven Installationen. Auf einer Bühne gab es nicht nur Informationen zur Wahl, sondern auch ein kurzweiliges Wissensquiz und natürlich Auftritte des sichtlich im Komödienfach erprobten Spitzenkandidaten. Dieser wollte am Abend aber vor allem konkrete politische Aussagen vermeiden.

Als stünde Ostrowski vor dem Sieg

Aus österreichischer Perspektive mutete diese Szenerie wie eine frische Inszenierung der Grazer Off-Bühne Theater im Bahnhof an, das mit Moderator Michael Ostrowski kurz vor der Machtübernahme in der Republik stehen würde.

Ähnlichkeiten mit den Improtheater-affinen Steirern sind kein Zufall: Der Präsidentschaftskandidat wurde durch KWN ("Klub der Lustigen und Findigen") bekannt, einer sowjetischen Spielart von Theatersport. Und auch der Wahlkampf wurde maßgeblich von der Schauspielertruppe seiner Produktionsfirma Studio 95. Quartal mitgeprägt.

Poroschenkos Team hatte sich am ersten Wahltag im Kiewer Kunstarsenal eingerichtet. Doch sein Stab ließ sich vom Geist der wichtigen Kunstinstitution nicht beeindrucken: Ein uninspiriertes Setting sorgte in Kombination mit einem bescheidenen Wahlergebnis bisweilen für nahezu gespenstische Stille.

Ohne visuelle Signatur

Die ästhetische Bilanz von Präsident Poroschenko fällt insgesamt nüchtern aus. Das seit Juni 2014 amtierende Staatsoberhaupt und seine Mitstreiter haben keine visuelle Sprache gefunden, mit denen sie die politischen Veränderungen nach dem Maidan positiv und nachhaltig hätten kommunizieren können.

Dabei hatte es anfänglich im Umfeld Poroschenkos ein ästhetisches Problembewusstsein gegeben. Sein erster Kanzleichef Borys Loschkin installierte in der zwischen 1936 und 1939 errichteten Präsidentschaftskanzlei einen Raum für zeitgenössische Kunst, mit dem er einer weiterhin wirkungsmächtigen Architektur etwas entgegensetzten wollte: "Die Atmosphäre von Stalins Neoklassizismus hängt wie ein Fluch über allen Regierenden, die neu in diese Büros einziehen", ließ er schreiben.

Sobald Loschkin im Sommer 2016 seinen Posten verlassen hatte, war es mit diesen Aktivitäten bald vorbei. Eine letzte Ausstellung in der Präsidentschaftskanzlei beschäftigte sich mit der ukrainischen Wiederentdeckung des gebürtigen Kiewers Kasimir Malewitsch. Parallel dazu hatten damals auch Aktivisten vergeblich versucht, den Flughafen Boryspil nach dem avantgardistischen Maler benennen zu lassen. Ein Malewitsch-Flughafen positioniere die Ukraine als Land mit reichhaltigem kulturellem Erbe, das neben Volkskultur auch Modernismus einschließe, argumentierte der Parlamentarier Serhi Leschtschenko. Er gilt nun als einer wichtigsten intellektuellen Unterstützer Selenskis.

"Dekommunisierung" gescheitert

Zumindest ästhetisch gescheitert ist aber auch die von Poroschenko forcierte "Dekommunisierung". Nach der Demontage von Statuen Lenins und anderer sowjetischer Amtsträger hat diese Politik in weiten Teilen des Landes verwahrloste Sockel hinterlassen, mit denen niemand etwas richtig anzufangen weiß.

In der südukrainischen Industriemetropole Saporischschja war Lenins riesiger Sockel 2016 mit ukrainischen Fahnen bestückt sowie mit einer Folie überklebt worden, die einen stolzen Kosaken zeigen. Wind und Wetter haben mittlerweile den Fahnen zugesetzt, die Folie selbst beginnt sich zu lösen.

Im Sockel des Kiewer Lenins hingegen, der bereits im Dezember 2013 gestürzt wurde, steckt nunmehr ein ukrainischer Dreizack. Vor dem ehemaligen Denkmal befindet sich seit Monaten eine überdimensionale Hand des rumänischen Künstlers Bogdan Ra?a, die eher beliebig wirkt.

Stalins Stil oder jener der Mafiabosse

Die regierenden Eliten forcierten zuletzt aber just jene Formen, die Poroschenkos damalige rechte Hand als problematisch erachtet hatte: Im ebenso stalinistischen Parlamentsgebäude wurden zwar kommunistische Symbole und sozialrealistische Wandgemälde verdeckt. Als jedoch kürzlich Schreine mit der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung installiert wurden, setzte man erneut auf Neoklassizismus. Unklar blieb allerdings, ob Stalins Architektur oder eher die Gräber postsowjetischer Mafiabosse hier als Inspirationsquelle gedient haben.

Die Frage, ob eher der Politiker oder der Fernsehkabarettist eine zeitgenössische Ukraine repräsentieren, ist nicht neu. Bereits 2013 hatte der Kiewer Künstler Winni Reunow in seinem collageartigen Gemälde Modernismus auf Ukrainisch zahlreiche bekannte Ukrainer gemeinsam auf einer vermeintlichen Titelseite von Forbes dargestellt: Während Poroschenko lediglich im Hintergrund zu sehen ist, malte der Künstler damals bereits "Lachfabrik"-Selenski als größte abgebildete Figur in den Vordergrund. (Herwig G. Höller, 13.4.2019)