Der "Spiegel" widmete der Aufarbeitung des Falles Relotius eine eigene Titelgeschichte, auch eine Kommission wurde eingerichtet. Diese arbeitet noch.

Foto: Spiegel

Es muss ein netter Briefträger sein, der da in einer Reportage über ein kleines irisches Dorf beschrieben wird. Er habe es nicht nötig, die Postkarten, die er verteilt, zu lesen, steht im Text. Denn die Menschen mögen ihn so sehr, dass sie ihm ohnehin erzählen, was draufsteht.

Hallo? Kann man das so schreiben? Hat der Autor mit allen Einwohnern des Dorfes gesprochen? Oder ist das nur sein Eindruck? Oder gibt er bloß eine Selbstbeschreibung des Postboten wieder?

Und schon sind wir mittendrin in den Zweifeln, die die deutsche Medienbranche im Post-Relotius-Zeitalter plagen. Kann man Journalisten, die große Reportagen – auch für namhafte Medien – schreiben, noch vertrauen? So lautet die Frage, seit im Dezember bekannt wurde, dass der deutsche Journalist Claas Relotius vor allem für den Spiegel zwar unglaublich schöne Reportagen geschrieben, aber darin sehr viel einfach erdichtet hat.

In Hamburg befasst sich an diesem Wochenende ein ganzer Workshop des Reporter-Forums damit – und das auch ein bisschen eigennützig. Denn die Journalisten vergeben auch den bislang namhaften Reporterpreis, und der ging in den vergangenen sechs Jahren viermal in einer Kategorie an Relotius selbst.

Absurde Google-Prozesse

"Ich habe jetzt noch mehr Panik, dass ich etwas schreibe, das nicht stimmt", bekennt Britta Stuff von der Zeit freimütig. Sie berichtet von "total absurden Google-Prozessen", die sie gelegentlich lostrete, um auch ja alle Fakten in ihren Geschichten noch einmal zu kontrollieren. Sie habe aber Angst, dass all das verlorengehe, "was man früher intuitiv" und eben gar nicht schlecht oder auch gar nicht falsch gemacht habe.

"Wir dürfen nicht ver-ernsten", mahnt sie. Ja klar, es habe mit Relotius einen "Heiratsschwindler in der Branche" gegeben. Aber deshalb müsse man jetzt nicht jede Beziehung hinterfragen.

Auch Juan Moreno vom Spiegel ist da, er hatte es nicht weit, denn originellerweise findet der Workshop in den Räumen des Spiegel an der Ericusspitze statt. Moreno ist jener Journalist, der die Manipulationen seines Kollegen Relotius aufgedeckt hat, und gilt seither ein bisschen als Held.

Er erzählt, er ließ danach ein von ihm verfasstes Porträt extra vom Porträtierten abchecken, was eigentlich unüblich sei. Aber: "Das wäre ja fantastisch, wenn man bei mir auch Fehler gefunden hätte." Doch grundsätzlich rät er: "Wir müssen uns nicht dauernd hinterfragen." Denn: "Ich bin der Überzeugung, dass 99,9 Prozent (der Kollegen, Anm.) das weiterhin machen können, was sie vorher gemacht haben. Wenn wir am Reporter zweifeln, können wir einpacken."

Lara Fritzsche vom Magazin der Süddeutschen Zeitung sagt, sie schaut seit Relotius nicht nur, ob die Quelle sicher sei; sie fragt (sich) auch: Mit welchem Blick wurde die Geschichte geschrieben? Und noch viel mehr interessiere sie: "Wie kommst du dazu?"

Da kann Moreno aus dem Nähkästchen plaudern. Das mit den Quellen habe man Relotius ja auch oft gefragt beim Spiegel, "und dann ist er in sein Zimmer gegangen und hat etwas zusammengeschrieben". Der Spiegel hat eine eigene Kommission zur Aufarbeitung der Affäre eingerichtet, sie wühlt sich immer noch durch die Papiere. "Die Kommission möchte sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen", sagt Leiter Clemens Höges.

Armin Wolf hat eine Frage

Wie kann es denn sein, dass Relotius so viele Preise gewonnen hat (die er mittlerweile zurückgegeben hat)? Das will der aus Wien angereiste ORF-Anchor Armin Wolf wissen. Das ist natürlich keine angenehme Frage, aber prominente Journalisten, die in der Jury sitzen, sind zum Workshop gekommen, um zu antworten.

"Welche Scheiße!" – Das hat sich der ehemalige ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender gedacht. Dem Grimme-Preis-Träger Friedrich Küppersbusch ergeht es heute noch nicht anders: "Wir ärgern uns den Arsch ab." Relotius hatte einen Riecher für Geschichten, die waren gut geschrieben, nie im Leben hätte man gedacht, dass derlei erlogen sein hätte können – all dies hört man noch einmal als Erklärung.

Doch dann ist es an der Zeit, nach vorne zu blicken. Was muss geschehen, damit so etwas nicht noch einmal passiert? Die Jury des Deutschen Reporterpreises will sich künftig mehr Zeit bei der Auswahl und auch ein paar Anleihen beim Henri-Nannen-Preis nehmen.

So sollen Texte anonymisiert werden, man wird künftig auch eine kleine Dokumentation darüber anfordern, wie ein Text entstanden ist, wer die Quellen sind.

Die Auswahl des Henri-Nannen-Preises wird seit Neuestem von zwei extra eingestellten Dokumentaren begleitet. Und dennoch meint Andreas Wolfers, der die Henri-Nannen-Schule in Hamburg leitet: "Wenn einer wirklich mit krimineller Energie fälscht, dann fällt es schwer, das zu entdecken." (Birgit Baumann aus Hamburg, 13.4.2019)