Der FPÖ-Spitzenkandidat für die EU-Wahl, Harald Vilimsky, und einer der wahrscheinlichen Spitzenkandidaten für die nächste Gemeinderatswahl in der Bundeshauptstadt, der nichtamtsführende Vizebürgermeister und Stadtrat Dominik Nepp, waren kürzlich zu Gast in Ceuta – einer kleinen spanischen Exklave in Nordafrika. Nepp organisierte den "Lokalaugenschein" an einer der beiden spanisch-marokkanischen Landgrenzen für "Vilimsky und mehrere Journalisten", unter anderem von "Krone" und "Heute".

In den Beiträgen wiederholen die Politiker ihre üblichen Forderungen nach einer "konsequenten No-Way-Politik", um dem "Asylgrenzsturm" und "Migrationsdruck" Einhalt zu gebieten. Tatsächlich gestaltet sich die Situation in Ceuta weitaus komplexer.

Immer wieder kommt es zu Zusammenstößen zwischen Marokkanern und den lokalen Polizeieinheiten.
euronews (in English)

Stolz und spanisch

Phönizier, Römer, Byzantiner, Araber, Westgoten, Berber und schließlich Portugiesen übten wechselseitig die Kontrolle über den kleinen, heute 18,5 Quadratkilometer großen Felsvorsprung an der Straße von Gibraltar aus, ehe Ceuta 1668 endgültig an die Spanier fiel. Da die Stadt nie Teil des spanischen Protektorats in Marokko, sondern stets direkt Spaniens Regierung unterstellt war, blieb sie auch nach Marokkos Unabhängigkeit im Jahr 1956 spanisch. Heute bildet Ceuta gemeinsam mit dem einige hundert Kilometer weiter östlich gelegenen Melilla und dem Spezialfall Peñón de Vélez de la Gomera (siehe Facebook-Post) die einzigen Flecken EU-Boden auf dem afrikanischen Kontinent.

Immer wieder beanspruchte Marokko die Hoheit über die beiden spanischen Exklaven, sämtliche Versuche stießen aber auf wenig Gehör jenseits der 21 Kilometer breiten Wasserstraße.

Denn Ceutaner sind stolze Spanier. Mit Französisch kommt man hier nicht weit, Englisch klappt in den meisten Fällen noch ganz gut, zumindest in der von europäischen Großhandelsketten besiedelten Einkaufsstraße. Arabisch können auch einige, immerhin ist schon lange ein großer Teil der Bevölkerung muslimisch. 2010 wurde gar das islamische Opferfest zu einem offiziellen Feiertag erhoben. Das friedliche Nebeneinander funktioniert trotz gelegentlicher Spannungen seit Jahrzehnten, wenngleich die Erstversorgungsquartiere und Aufnahmezentren für Flüchtende immer wieder an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen.

Abschottung

Richtig bekannt wurde die Exklave allerdings erst mit der Errichtung des 8,3 Kilometer langen Grenzzauns im Jahr 1993. Dieser wurde 2005 auf sechs Meter Höhe verdoppelt, nachdem es immer wieder zu Versuchen irregulärer Grenzübertritte gekommen war. Der mit Stacheldraht versehene Zaun hinderte immer wieder Menschen – vor allem aus dem Subsahara-Afrika – am Betreten von Ceuta, über die Jahre schafften es dennoch mehrere tausend Menschen. Kaum eine Grenze ist unüberwindbar. Und wer EU-Boden betritt, hat das Recht einen Asylantrag zu stellen.

So ganz versteht man beim ersten Mal nicht immer, was an der Ceuta-Grenze gerade passiert. Hier klettert ein Mann über den Zaun zur Autofahrbahn zwischen den zwei staatlichen Kontrollposten.
Foto: Sommavilla

Weit mehr Menschen, als es schafften, wurden hingegen beim Versuch, die Grenze zu passieren, verletzt. Sei es durch den Stacheldraht, Stürze oder die von den FPÖ-Politikern hochgelobte Guardia Civil – jene Polizeieinheit, die zweifellos einen sehr harten Job ausübt und dafür mitunter militärische Befugnisse hat. Sie lässt sich am ehesten mit der französischen Gendarmerie oder den italienischen Carabinieri vergleichen.

2005 ertranken zahlreiche Flüchtende, als die paramilitärische Einheit mit Gummigeschoßen auf schwimmende Flüchtende feuerte. Beinahe regelmäßig kam es in den vergangenen Jahren zu schweren Menschenrechtsverletzungen seitens der Gendarmerieeinheit. Sei es durch der Europäischen Menschenrechtskonvention widersprechende Pushbacks, bei denen Menschen, die ein Recht auf einen Asylantrag hätten, einfach per Bus oder durch eine Tür im Grenzzaun nach Marokko zurückgeschickt werden, oder durch Schläge und Tritte gegen Flüchtende.

Der Schlagstock sitzt mitunter sehr locker bei der Guardia Civil und der marokkanischen Grenzpolizei, wie ich auch schon aus nächster Nähe beobachten musste. Erzählungen von Flüchtenden zufolge sollen dabei gezielt Unterschenkel und Unterarme gebrochen werden, um ein abermaliges Übersteigen des Zauns zu erschweren.

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Spuren einer versuchten Zaunüberquerung.
Foto: AP / Mosa'ab Elshamy

Wir gegen die anderen

Doch auch die Methoden der Asylsuchenden wurden brutaler. Die meist jungen Männer sahen sich ob der widrigen Umstände gezwungen, in großen Gruppen von einigen Hundert in den Wäldern nahe dem Grenzzaun zusammenzuwarten, Energie zu sammeln und "überfallsartig" die Grenzbeamten zu überraschen, sodass es zumindest eine Handvoll schafft. Sie bewarfen dabei mitunter die Grenzschutzeinheiten mit Brandkalk oder Fäkalien.

Drei Viertel der nach Spanien gelangten Geflüchteten kamen über die westliche Mittelmeerroute (WMR), die westafrikanische Route über die Kanarischen Inseln machte rund zwei Prozent aus. Melilla ist deutlich stärker frequentiert als Ceuta.
Foto: IOM

Das Duell zwischen Flüchtenden und Polizei schaukelte sich in den vergangen Jahren gefährlich hoch, ist letzten Endes aber stets noch eine Frage von Leben oder Tod – vor allem für die Menschen auf der Flucht. Seit sich die Fluchtrouten aufgrund der menschenfeindlichen Flüchtlingspolitik des italienischen Innenministers Matteo Salvini von der zentralen auf die westliche Mittelmeerroute verlagert haben, kommen auch in Ceuta wieder mehr Menschen an. In den ersten drei Monaten des Jahres 2019 trafen rund 5.600 in Spanien über den Seeweg ein. Von allen Ankünften in Spanien machte Ceuta knapp fünf Prozent aus – drei Prozent über die Landesgrenze, zwei Prozent kamen auf dem Seeweg.

Spektakel

An kaum einem Ort wird das Grenzspektakel aber so deutlich wie in Ceuta. Diese von Menschen gezogene, eigentlich virtuelle Linie bekam durch die Entstehung des Grenzzauns nicht nur einen materiellen Aspekt in der realen Welt, es schrieb ihr auch eine bestimmte Symbolik zu, die berühmte "Wir gegen die anderen"-Logik. Jene Politiker, die sich immer wieder gerne zu den Verteidigern Europas hochstilisieren, sehen gerade auch deshalb in dieser Grenze eine Gefahr für den Fortbestand Europas, wie sie ihn sich vorstellen.

In Melilla ist die Situation an der Grenze meist noch unübersichtlicher und prekärer.
Vox

Für Nepp hingegen ist klar, warum die Grenze eine solche Anziehung auf flüchtende Menschen ausübt: Es sei scheinbar ein Ticket nach Österreich, und gerade das rot-grüne Wien müsse deshalb "endlich den Pull-Faktor Mindestsicherung abstellen", erzählt er im "Krone"-Video. Die Zahl jener, die – während sie gerade dabei sind, ihr Leben zu riskieren – an Wiens Mindestsicherungsmodell denken, dürfte aber überschaubar sein.

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Stacheldrahtzaun ist omnipräsent.
Foto: REUTERS/Juan Medina

Vilimsky, der die ohnehin äußerst hoch angesetzte Zahl angeblich im Wald wartender Fluchtwilliger im "Krone"-Video (60.000–80.000) gleich nochmals um einige Tausend hochschraubt (80.000–100.000; gesicherte Zahlen gibt es nicht), ist vom Zaun, vor dem er sich einerseits zu fürchten scheint, andererseits sehr begeistert: "Das Zaunsystem sieht in jedem Fall sehr, sehr effektiv aus." Dennoch könne es nicht das einzige Instrument sein.

8,3 Kilometer Stacheldrahtzaun in doppelter Ausführung. Angeblich sollen bereits Gespräche laufen, um eine dritte Reihe auf marokkanischem Boden aufzustellen, mitfinanziert von der EU.
Foto: APA/AFP/FADEL SENNA

Man müsse schließlich den "Glücksrittern" aus Arabien (sic!) und Afrika, die ihr Leben verbessern wollen, sagen, dass sie in ihrer Region versuchen sollen, ein "Auslangen" zu finden. Um den "Strom" von "mehreren Hunderttausend und Millionen" Menschen aufzuhalten, müsse man über solche Zaunsysteme auch in anderen Regionen nachdenken, so Vilimsky.

Nun ist der Zaun alles andere als unumstritten, besonders in Spanien. Immer wieder haben sich Aktivisten und Menschenrechtsorganisationen, aber auch Politiker bis hin zum Premierminister für dessen Niederreißen eingesetzt. Besonders interessant beim Verlauf des Grenzzauns: Er soll an mehreren Stellen nicht der tatsächlichen Grenzziehung entsprechen, sodass viele Flüchtende bereits spanischen Boden erreicht haben, wenn sie den Zaun lediglich berühren, was von der Guardia Civil aber ignoriert wird. Wer einmal am Grenzzaun in Ceuta war, spürt schnell, dass hier zumeist nur ein Recht zählt: das des Stärkeren.

Wo das Chaos regiert

Ceuta ist auch ein riesiger Umschlagplatz für Schmuggelware. Schmuggel, der einerseits nur deshalb illegal ist, weil durch die europäische Grenzziehung lokaler Handel ab einem bestimmten Zeitpunkt transnational und später kriminalisiert wurde. Sofern er nämlich nicht in geordneten Bahnen stattfindet, kann der spanische Fiskus nicht davon profitieren.

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Der Handel blüht an der Grenze.
Foto: AP/Mosa'ab Elshamy

Diese geordneten, legalen Bahnen existieren auch in Ceuta für einige Marokkanerinnnen und Marokkaner, die in den zwei großen marokkanischen Städten nahe Ceuta leben. Regelmäßig dürfen sie nach Ceuta einreisen, um Waren für den Export nach Marokko zu erwerben. Tatsächlich resultiert dies oft in chaotischen Zuständen. Tausende stehen jeden Morgen vor den Grenzwachbeamten und versuchen am streng-schauenden Guardia-Civil-Offizier vorbeizukommen. Es liegt ein permanentes und bedrückendes Summen in der Luft. Immer schreit jemand, immer bewegt sich etwas.

Immer wieder fliegt dabei ein Päckchen oder ein Autoreifen durch die Gegend – Menschen springen über Trennvorrichtungen, um zumindest einen der zahlreichen marokkanischen Grenzpolizisten zu überwinden. Verhaftungen wegen falscher Identitätsausweise kommen immer wieder vor. Scheinbar willkürliche Ablehnungen von Ein- und Ausreiseanträgen sowieso.

Ab Minute 15:50 spricht ein spanischer Aktivist über die illegalen Pushbacks seitens der Guardia Civil.
VICE News

Dennoch kommen viele immer wieder – und sei es nur, um von EU-Boden aus billiger Geld für den in der Ukraine studierenden Bruder zu überweisen, wie ein 18-Jähriger erzählt, der einmal wöchentlich das jeweils etwa halbstündige Grenzprozedere durchläuft. Zur Rushhour frühmorgens (Richtung Ceuta) oder spätabends (Richtung Marokko) sei es am unberechenbarsten, weshalb er diese Stoßzeiten meidet. Mit seiner spanischen Aufenthaltsgenehmigung – dank des dortigen Jobs seines Vaters – ist die Grenzüberquerung für ihn, wie für den Autor dieser Zeilen, zwar mühsam, letzten Endes aber doch leicht. Die zwölf gelben Sterne auf blauem Grund im Pass wirken da wie ein Freifahrtschein.

Die wahren Glücksritter

Es sind dies jene Momente, in denen man einerseits den EU-Pass extrem zu schätzen lernt, aber auch die Zufälligkeit seines Geburtsorts hinterfragt. Ohne etwas dazu beigetragen zu haben, steht manchen eine sehr große Tür offen, die tagtäglich Tausenden verschlossen bleibt. Eine Tür, die jedes Jahr tausende versuchen zu durchschreiten, zu durchbrechen oder zu umgehen – und dabei verletzt oder getötet werden. Die Lösung für solch komplexe Grenzfragen ist schwer zu finden. Manch Politiker erwog, Asylbestimmungen für Ceuta auszusetzen, Unionsrecht muss aber nun einmal überall gelten, wo man der Union zugehören möchte.

Verzweifelte Menschen greifen oft zu verzweifelten Taten. Die Bilder des achtjährigen ivorischen Buben, der 2015 in einem Koffer die Grenze nach Ceuta zu passieren versuchte, gingen um die Welt.
Foto: APA/AFP/Spanish Guardia Civil/HA

Der Zaun jedenfalls wirkt nicht, als sei er die geeignetste Lösung. Er verletzt, er tötet, und er bietet immer wieder einen Anreiz, es doch auf die andere Seite zu versuchen. Nach dem privaten Besuch an der Grenze wurde dem Autor dieses Lokalaugenscheins jedenfalls eines klar: Die wahren Glücksritter sind Menschen wie Herr Vilimsky und ich, die solche Zäune durchschreiten wie die eigene Wohnzimmertür – und nicht jene Menschen, die vor Hunger, Gewalt und Perspektivlosigkeit fliehen und beim Versuch der Überquerung ihr Leben riskieren. (Fabian Sommavilla aus Ceuta, 27.4.2019)