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Kein Bürger der Europäischen Union soll aufgrund seiner Behinderung vom Wahlrecht ausgeschlossen werden, wünscht sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss. Das Bundesverfassungsgericht entschied am Montag, einem Eilantrag von Grünen, Linken und der FDP stattzugeben. Die Opposition im Bundestag hat gefordert, das inklusive Wahlrecht schon für die Wahlen zum Europäischen Parlament Ende Mai umzusetzen.

Foto: REUTERS/Uli Deck

Menschen mit Behinderung, die vollständig betreut werden, sowie psychisch Kranke, die sich im sogenannten Maßregelvollzug befinden, dürfen in Deutschland künftig nicht mehr von Wahlen auf Bundesebene ausgeschlossen werden. Das hatte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe bereits im Jänner entschieden. Für die Europawahl Ende Mai galt das jedoch zunächst noch nicht, denn eine Gesetzesreform der großen Koalition sollte erst per 1. Juli in Kraft treten.

Das Bundesverfassungsgericht entschied allerdings am Montag, einem Eilantrag von Grünen, Linken und der FDP stattzugeben. Die Opposition im Bundestag hat gefordert, das inklusive Wahlrecht schon für die Wahlen zum Europäischen Parlament Ende Mai umzusetzen.

In anderen EU-Ländern – wie in Österreich – ist ein inklusives Wahlrecht schon lange Realität. Beschränkungen des Grundrechts auf politische Teilhabe gibt es trotzdem in fast allen Mitgliedstaaten der EU, zeigt eine aktuelle Studie.

Neues Wahlrecht für 80.000 Menschen

In Deutschland hatten sich Union (CDU, CSU) und SPD im Koalitionsvertrag auf ein inklusives Wahlrecht geeinigt, die konkrete Ausgestaltung war aber bisher unklar. Im März wurde die Reform des Wahlrechts dann beschlossen. Bei der Entscheidung, die Neuregelung noch nicht für die Europawahl geltend zu machen, berief sich die Regierung auf die Venedig-Kommission, eine Einrichtung des Europarates, die Staaten verfassungsrechtlich berät. Dieser zufolge solle zwölf Monate vor einer Wahl keine Änderung des Wahlrechts vorgenommen werden.

Die Bundestagsfraktion der Grünen kritisierte, eine Zunahme der Wahlberechtigten um weniger als 100.000 Menschen würde das Gesamtergebnis der Wahl nicht verfälschen. Die Grünen-Politikerinnen Britta Haßelmann und Corinna Rüffer mahnten an, es gehe "um nichts weniger als die Umsetzung eines Grundrechts".

Neben dem inklusiven Wahlrecht soll auch die Möglichkeit einer Wahlrechtsassistenz für Menschen mit Behinderung geschaffen werden, wie es sie in Österreich in ähnlicher Form bereits gibt. Von der Reform wären Angaben von Parlamentariern zufolge 80.000 bis 85.000 Menschen in Deutschland betroffen.

Ausschluss von Menschen mit Behinderung Realität in 27 EU-Staaten

Aber wie sieht es in anderen EU-Staaten mit dem Wahlrecht für Menschen mit Behinderung aus? Ein Bericht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA), einer beratenden Einrichtung der EU, gibt einen Überblick über dessen "praktische Ausübung" bei der Europawahl. Dem im März veröffentlichten Bericht zufolge gibt es in jedem der 27 untersuchten EU-Staaten (Großbritannien ist nicht in dem Bericht inkludiert) "Vorschriften oder organisatorische Regelungen, die einen Teil der Wähler mit Behinderungen von der Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament ausschließen". Das Problem sei in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr ungleich ausgeprägt.

Etwa 800.000 Unionsbürger sind laut dem Bericht aufgrund nationaler Vorschriften wegen ihrer Behinderungen oder psychischer Erkrankungen vom Recht auf Teilnahme ausgeschlossen, das in zahlreichen internationalen Erklärungen festgeschrieben ist. So zum Beispiel in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, nach der jeder das Recht hat, "an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken".

Speziell für die Rechte von Menschen mit Behinderung ist ein 2008 in Kraft getretenes Übereinkommen der Vereinten Nationen der wichtigste Rechtsakt. Er wurde auch von der EU ratifiziert und verpflichtet Staatem dazu, "sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, sei es unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter oder Vertreterinnen, was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen".

Das Übereinkommen enthält außerdem Maßnahmen, die dafür sorgen sollen, dass Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien "geeignet, zugänglich und verständlich" sind.

Einschränkungen des Wahlrechts

National gibt es dennoch Begrenzungen des Wahlrechts für Menschen mit Behinderung, stellt der EWSA fest: Im Rechtssystem von neun Ländern sind Menschen, für die "vorsorgliche Maßnahmen" getroffen wurden, etwa eine Sachwalterschaft, automatisch von der politischen Teilhabe ausgeschlossen – und zwar in Bulgarien, Deutschland, Estland, Griechenland, Litauen, Luxemburg, Polen, Rumänien und Zypern.

In Belgien, Frankreich, Malta, Portugal, Slowenien, Tschechien und Ungarn wird die Ausübung des Wahlrechts bei betreuten Menschen individuell durch ein Gericht oder einen Richter beurteilt, der auch über die Aufgaben eines Sachwalters entscheidet.

Österreich als Vorreiter

In den elf übrigen Mitgliedstaaten, zu denen Österreich zählt, darf das Wahlrecht unter gar keinen Umständen aberkannt werden. Menschen mit Behinderung, denen das Ausfüllen des amtlichen Stimmzettels ohne fremde Hilfe nicht zugemutet werden kann, dürfen sich in Österreich den Wahlgrundsätzen zufolge bei der Stimmabgabe von einer selbst ausgewählten Person unterstützen lassen.

Der Ausschuss bemängelt außerdem, dass nur in wenigen Mitgliedstaaten Informationen vor Wahlen auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zugeschnitten seien. Ein positives Beispiele sei in diesem Zusammenhang etwa ein Internetportal in Schweden und Deutschland, auf dem sich blinde und sehbehinderte sowie Menschen mit Leseschwäche die Informationen vorlesen lassen können.

Der EWSA hoffe, dass "bei den nächsten Wahlen im Jahr 2024 kein Bürger der Europäischen Union aufgrund seiner Behinderung vom Wahlrecht ausgeschlossen wird". (Milena Pieper, 15.4.2019)