Bild nicht mehr verfügbar.

Auch Präsident Emmanuel Macron und seine Frau Brigitte waren vor Ort.

Foto: REUTERS/Philippe Wojazer

Paris ist nicht gerade arm an markanten kulturellen Bauten, historischen Plätzen und Wahrzeichen. Der Eiffelturm, das alte Königsschloss Louvre, heute ein Museum mit einer der größten Kunst- und Archäologiesammlungen der Welt, der Triumphbogen am Ende der Prachtstraße Champs-Élysées – jedes Kind kennt diese Ausweise französischer Geschichte.

Aber kein Gebäude konnte es in der Hauptstadt mit Notre-Dame aufnehmen. Dreizehn Millionen Menschen kamen jedes Jahr, um dieses Weltkulturerbe zu sehen. Der Platz vor ihren Türmen gilt Franzosen als "Punkt null", als das Zentrum: Von hier aus werden die Entfernungen aller Orte des Landes zu Paris vermessen.

Magischer Ort der Erhöhung

Und die Historie wiegt schwer – am Ufer der Seine, gleich neben der riesigen Kathedrale, liegen die Ursprünge der Stadt in keltischer und römischer Zeit: Lutetia – übersetzt Hafen –, wie Paris zur Zeit von Julius Cäsar (und Asterix!) hieß. An dieser Stelle wurde Notre-Dame als Meisterwerk christlich-gotischer Architektur vor fast 900 Jahren erbaut. Ein magischer Ort der Erhöhung – auch für das laizistische Frankreich –, wo Napoleon gekrönt und wo nach den Weltkriegen der Friedensschluss gefeiert wurde.

Kein Wunder also, dass der Brand der Kirche Montagabend binnen Minuten in Frankreich und weltweit Millionen Menschen an TV-Schirme und Smartphones fesselte. Und dennoch war bald klar, dass sich hier etwas zeigte, was weit über die Schaulust hinausging, vor aller Augen eine Ikone christlicher Religion live in Vollbrand stehen zu sehen: Die Menschen rückten plötzlich eng zusammen. Ein gesellschaftspolitischer Akt.

Es seien "verstörende Bilder", die da aus Paris kämen, twitterte Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Gut getroffen. Kein Mensch kam ernsthaft zu Schaden, aber tausende Menschen standen stumm und weinend auf der Straße, gleichzeitig ergriffen, hilflos, verzweifelt. Erstaunlich auch: Frankreichs Kirchen darben dahin, sind notorisch baufällig, weil der laizistische Staat für sie kaum Geld freigibt. Aber plötzlich bekannten im Schein des Feuers Spitzenpolitiker von ganz links bis rechts ihren tiefen Schmerz darüber, dass "ein Emblem unserer gemeinsamen Geschichte" zerstört wurde. Staatspräsident Emmanuel Macron sah gar "einen Teil von uns selbst brennen".

Politik sollte besser schweigen

Der Chef der radikalen Linken, Jean-Luc Melenchon, forderte, dass die Politik, die sich nach den Gelbwesten-Protesten bereits voll im EU-Wahlkampf befindet, nun besser einmal schweigen sollte. Genauso wie die Chefin der extremen Rechten, Marine Le Pen, ritt er seit zwei Jahren heftige Attacken gegen Macrons Regierung.

Nun plötzlich Frieden? Der Brand von Notre-Dame wirkt diesbezüglich tatsächlich wie ein großes Symbol. Die nationale Kulturtragödie scheint nur wenige Wochen vor den Europawahlen eine neue Seite aufzuschlagen – mit einer Warnung: Seht her, kostbarste Güter unserer Kultur, die man über Generationen aufgebaut hat, können binnen Minuten zerstört werden. Das gilt auch für die Demokratie, wenn man nicht aufpasst – so wie mutmaßlich die Arbeiter bei den Renovierungsarbeiten am Kirchendach.

Staat, Parteien und Gesellschaft befinden sich in Frankreich schon seit Jahren in einer Krise. Seit den Terroranschlägen 2015 gilt sicherheitspolitisch der Ausnahmezustand. Macron hat viele enttäuscht. Seit Monaten irritieren gewalttätige Ausschreitungen der Gelbwesten gegen die Regierungspolitik die Öffentlichkeit.

Wiederaufbau als Akt nationaler Kraftanstrengung

Der Staatspräsident wollte sich deshalb via TV-Ansprache Montagabend gerade an die Nation wenden, um soziale Erleichterungen anzukündigen und zu einem Ende der Gewalt aufzurufen. Dann kam die erste Meldung vom Brand. Die Rede wurde blitzartig abgesagt. Und Macron nützte die Gelegenheit, verkündete noch während der Löscharbeiten den Wiederaufbau von Notre-Dame als Akt nationaler Anstrengung, mit den besten Talenten des Landes, als "unser Projekt für die nächsten Jahre", auch über Frankreich hinaus mit den Europäern.

Ein geschickter politischer Schachzug: Wie immer nach nationalen Tragödien scharen sich die Franzosen in der Stunde der Not zuerst einmal um den Staatspräsidenten. Man wird viele Milliarden brauchen, um Notre-Dame wiederaufzubauen. Die EU-Partner werden dabei helfen.

Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo ist bereits auf diesen Kurs eingeschwenkt und hat dabei an das jahrhundertealte Motto der Hauptstadt erinnert, auf Lateinisch: "Fluctuat nec mergitur." Übersetzt: "Sie schwankt in den Wellen, aber sie geht nicht unter." Diesen Ruf gab es auch nach dem Terror 2015. Sehr wahrscheinlich, dass die Zerstörung einer europäischen Kulturikone nun ähnliche Wirkung entfaltet, im Sinne von: Jetzt müssen die Franzosen zusammenstehen und aufbauen, statt zu streiten und sich noch mehr zu spalten. (Thomas Mayer, 16.4.2019)