Paris – Sirenen überall, Blaulicht, Trillerpfeifen eines gestikulierenden Verkehrspolizisten, der nicht mal Zeit hatte, sich seines Helms zu entledigen. Am Quai de Montebello rasen Polizei- und Feuerwehrwagen vorbei, während die Menge immer dichter wird. Alle schauen wie gebannt auf die Kathedrale, die auf der Stadtinsel wie ein verletztes Tier daliegt, leidet und kämpft. Zwei Worte hört man immer wieder: Es sei "schrecklich", es sei "traurig". Und in den vielen Sprachen der Touristen das Wort "Katastrophe".

Inmitten der Erschütterung und Hektik – ein Hort des Friedens auf der kleinen Place Jacques Duhamel. Im Schein der Straßenlaternen schauen Menschen, einige mit Tränen in den Augen, um Fassung ringend und doch völlig fassungslos auf das schwarze Kirchenschiff. Gespenstisch fast die schwarze Silhouette der einst so wunderschönen Rosette am südlichen Querschiff, unweit des Ortes, wo gegen 20 Uhr die Turmspitze eingestürzt ist.

Bild nicht mehr verfügbar.

Feuerwehrleute sichern die Notre-Dame Kathedrale in Paris.
Foto: AP

Unter den Bäumen des kleinen Platzes singen anonyme Menschen. Sie singen ohne Unterlass ein Kirchenlied nach dem anderen, unterbrochen nur von Gebeten. "In der Angst, der Gefahr und dem Zweifel, wenn die Nacht der Verzweiflung dich bedeckt", rezitieren sie. "Wenn dein Herz im Abgrund verloren ist, davongetragen von den Strömen der Traurigkeit – dann folge dem Stern, ruf Maria an."

Maria, die Mutter Jesu oder die Jungfrau, jedenfalls Unsere Dame. Notre-Dame von Paris, die Kathedrale der Lichterstadt, ihr wichtigstes, das symbolreichste Wahrzeichen. "Es ginge noch, wenn Sacré-Cœur einstürzt oder sogar der Eiffelturm. Aber doch nicht Notre-Dame!", meint Odile, eine junge Pariserin, die einst hier im Quartier Latin wohnte und oft die Messe in Notre-Dame besuchte. "Hier auf dem Vorplatz der Kirche beginnt der Pilgerweg nach Compostela. Und hier kommt die ganze Geschichte Frankreichs zusammen!"

Bild nicht mehr verfügbar.

"Das ganze Feuer ist aus", sagte der Sprecher der Feuerwehr, Gabriel Plus, Dienstagfrüh.
Foto: Reuters

Odiles Mutter nickt, ohne ein Wort zu sagen – sie summt nur leise vor sich hin. Andere Umstehende greifen das Thema auf, froh, irgendetwas sagen zu können. "Ja, in Notre-Dame wurde schon Jeanne d'Arc rehabilitiert", meint ein älterer Mann. "Hier krönte sich Napoleon zum Kaiser, hier feierte de Gaulle die Befreiung von Paris von der Nazi-Besatzung." Ein Schauer laufe ihm über den Rücken, wenn er daran denke, wie die mächtige Orgel von Notre-Dame an jenem Augusttag des Jahrs 1944 ein Magnificat angestimmt und dann die Marseillaise geschmettert habe.

"Geschmähtes Paris, gebrochenes Paris, aber befreites Paris", rief de Gaulle damals aus. Jetzt ist die Notre-Dame selber entstellt, ausgebrannt – aber sie überlebt. Zwei Stunden zuvor, als noch niemand wusste, ob das Bauwerk und insbesondere der Nordturm den Flammen standhalten würden, hatte "Libération"-Herausgeber Laurent Joffrin in der Onlineausgabe der Zeitung geschrieben, nicht nur Notre-Dame brenne – in einem gewissen Sinn brenne ganz Paris. Notre-Dame sei "ein Gutteil der französischen Identität", ein Symbol der französischen Geschichte.

Foto: apa

Und nicht nur der flamboyanten. Die "Reine Margot" und die noch blutigere Bartholomäusnacht suchten Notre-Dame heim, dann kam die Umweihung der Kirche in einen "Tempel der Vernunft" während der Revolution. In Notre-Dame nahm die Nation Abschied von Staatspräsidenten wie de Gaulle, Pompidou oder Mitterrand; hier zelebrierte sie eine Gedenkmesse für die Opfer der schweren Terroranschläge von 2015.

Dieses Wahrzeichen im Herz von Paris sei aber noch viel mehr, sagt eine Frau: Die Kathedrale sei schließlich auch als Schauplatz von Victor Hugos "Glöckner von Notre-Dame" im Volk verwurzelt. Und hatte nicht schon der Dichter Gérard de Nerval die "tausendjährige Basilika" besungen und später Edith Piaf die Clochards vor der Kirche?

All das ist Notre-Dame für die Pariser, für die Franzosen, ja die Europäer und darüber hinaus. "Es ist ein Gotteshaus, aber eigentlich nicht nur ein religiöses Symbol für uns Katholiken", sinniert Odile. "Zuschauen müssen, wie die Kathedrale brennt, ist ein wenig, als würde unser Herz brennen." Die junge Pariserin ringt um Worte. "Oder als läge eine gute Freundin im Sterben. Ach was, Notre-Dame ist doch viel mehr als eine Person!"

Bild nicht mehr verfügbar.

Für viele Franzosen ist Notre-Dame mehr als ein Gotteshaus.
Foto: AP

Kathedrale als Symbol für Frankreich

Am Dienstagvormittag vermeldet die Feuerwehr, dass alle Flammen gelöscht sind. Experten müssen nun das Ausmaß der Schäden prüfen.

Langsam geht es der Schwerverletzten etwas besser, der heftigste Wundbrand scheint gemeistert. Auf der Place Duhamel sind sich alle einig: Der Verlust der Reliquien, der Einsturz der fein ziselierten Turmspitze von Eugène Viollet-le-Duc, die Zerstörung des historischen Dachstuhls und zweifellos des Kirchenschiffs – all das ist nichts gegen das Symbol, das die Kathedrale für Frankreich und für Paris darstelle.

Jetzt, wo die Gefahr gebannt ist, diskutieren die Herbeigeströmten bereits über die technischen Aspekte des Brandes. Ein Anwohner findet, das Hochfahren der Feuerwehrleitern habe ihm zu lange gedauert. Mit dem Verweis auf ein Experteninterview auf seinem Handy antwortet ein anderer Passant, die französische Feuerwehr versuche offenbar anders als die amerikanische einen Brand eher von innen her zu löschen, wenn keine Einsturzgefahr bestehe.

Der Direktor des Gotteshauses sieht keine Sicherheitsmängel beim Brandschutz. Es gebe etwa Brandaufseher, die dreimal täglich den Dachstuhl prüfen, sagte Patrick Chauvet Dienstagfrüh dem Sender France Inter. "Ich denke, dass man nicht mehr machen kann." Aber es gebe natürlich immer Vorfälle, die man so nicht habe vorhersagen könne. Man müsse nun prüfen, was passiert sei – er wisse es noch nicht.

Video des Brands von gestern.
DER STANDARD

EU-Ratspräsident ruft Mitgliedstaaten zur Hilfe auf

Schon beginnt die Diskussion über den Wiederaufbau. Die Herbeigeströmten sind sich sicher, dass es eine gewaltige Geldsammlung geben und der Wiederaufbau, den Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bereits ankündigte, nur wenige Jahre beanspruchen werde.

310 Millionen Euro stehen dafür bereits bereit. Die Region Île-de-France, die größtenteils dem Großraum Paris entspricht, kündigte am Dienstag eine Soforthilfe von zehn Millionen Euro an. Die Familien hinter zwei Luxusgüterkonzernen sagten zusammen 300 Millionen Euro zu.

EU-Ratspräsident Donald Tusk hat alle anderen EU-Mitgliedstaaten zur Hilfe beim Wiederaufbau aufgerufen. "Ich weiß, dass Frankreich das alleine machen könnte, aber hier geht es um mehr als nur materielle Hilfe", sagte Tusk Dienstagfrüh im Europaparlament. Auch die französische Profifußball-Vereinigung (LFP) hat finanzielle Unterstützung zugesichert. Kreml-Chef Wladimir Putin hat Frankreich Wiederaufbauhilfe von russischen Spezialisten angeboten.

Es ist Mitternacht, die Hoffnung ist zurück. Langsam leert sich der kleine Platz. In den Gassen dahinter geht das Leben weiter, als wäre nichts geschehen: Das Jungvolk des Quartier Latin sitzt auf den Bistroterrassen, lacht und freut sich des Lebens. Unehrerbietig wirkt das nicht – eher als Bestätigung, dass Notre-Dame nicht für einen Betriebsunfall im Dachstuhl gemacht ist, sondern für die Ewigkeit. (Stefan Brändle, APA, red, 16.4.2019)