Eintauchen in die Geschichte mit einer virtuellen Zeitmaschine: Ein ambitioniertes Big-Data-Projekt will das möglich machen.

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Stellen Sie sich vor, Sie betreten eine Zeitmaschine und steigen im Geburtsjahr ihrer Urgroßmutter aus. Sie spazieren durch die noch weitgehend autofreien Straßen Ihrer Stadt und kommen an Häusern vorbei, die es längst nicht mehr gibt.

Auch an dem Gebäude, das irgendwann in den 1960er-Jahren abgerissen wurde, um dort den Häuserblock mit Ihrer Wohnung zu bauen. Es war ein schönes Gebäude, und Sie wollen mehr über dessen Geschichte erfahren. Die Zeitmaschine liefert die gewünschten Informationen prompt und führt Sie tiefer und tiefer in die verzweigte Geschichte Ihrer Stadt und von deren Bewohnern hinein.

Was sich wie der Tagtraum eines romantischen Hobbyhistorikers anhört, befindet sich tatsächlich bereits auf dem Weg der Verwirklichung. Mehr als 200 Institutionen aus 33 Ländern arbeiten an der großen europäischen "Time Machine", darunter sieben Nationalbibliotheken (u. a. die ÖNB), 19 Staatsarchive und 95 Hochschul- und Forschungseinrichtungen wie die TU Wien.

Das Ziel: das unendliche Datenmeer der europäischen Vergangenheit bequem in allen gewünschten Richtungen und Tiefen zu durchmessen.

Big-Data-Universum

Wie das möglich sein soll? "Um Europas Kulturerbe zu heben, werden im Rahmen des EU-Projekts Time Machine völlig neue Formen der Digitalisierung entwickelt und verschiedenste Technologien aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz erprobt", sagt Thomas Aigner, Präsident des internationalen Archivnetzwerks Icarus mit Sitz in Wien und Mitinitiator des ehrgeizigen Projekts.

Durch das Florenz der Medici schlendern oder die eigene Familiengeschichte erkunden – all das soll bald auf Knopfdruck möglich sein.
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Während man historisches Wissen heute oft mühsam in verstreuten Archiven ausgraben muss, soll durch Time Machine aufwendige Quellenarbeit Geschichte werden. Voraussetzung dafür ist eine umfassende Digitalisierung aller analog vorhandenen historischen Daten – bis hin zu den Grundbuchunterlagen sämtlicher europäischer Gemeinden seit dem Spätmittelalter und den Personenstandsdaten ihrer Bewohner.

Erfasst werden auch sämtliche Daten von Bauwerken. Digitale Aufnahmen ermöglichen es, Informationen zur Beschaffenheit der verwendeten Werkstoffe und zum Erhaltungszustand zu dokumentieren.

Sie können auch der exakten Rekonstruktion beschädigter oder zerstörter Monumente dienen, wie im aktuellen Fall der Notre-Dame in Paris. "Eine bereits vorhandene 3D-Aufnahme der Kathedrale wird beim Wiederaufbau wertvolle Dienste leisten", sagt Aigner.

Andere Technologien wiederum sollen die Digitalisierung an sich weiter vorantreiben. "Eine am Projekt beteiligte Forschergruppe an der Uni Erlangen-Nürnberg arbeitet beispielsweise an einer Digitalisierungstechnologie, mit der man ganze Bücher automatisch einscannen kann, ohne die einzelnen Seiten umblättern zu müssen", sagt der Historiker.

Mehr als 200 Institutionen aus 33 Ländern arbeiten an der großen europäischen "Time Machine".
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Liegen schließlich alle relevanten Informationen aus alten Büchern und Urkunden in digitaler Form vor, sollen sie mithilfe künstlicher Intelligenz verlinkt werden. So können aus dem Big-Data-Universum der europäischen Geschichte bisher völlig unzugängliche Wissensschätze geborgen und durch den Einsatz von Computersimulationen oder Netzwerkgrafiken auch für Laien anschaulich dargestellt werden.

Profitieren würde auch die Wissenschaft, weil das System Zusammenhänge aufzeigen könnte, die bisher nicht oder nur sehr mühsam gewonnen werden können. Und welche Rolle spielen die Historiker? Werden sie zu Handlangern einer intelligenten Technologie? "Durchaus nicht", beteuert Thomas Aigner. "Die Time Machine liefert Daten und macht sie nutzbar – aber sie ersetzt nicht die historische Interpretation."

Es ist ein äußerst ambitioniertes Vorhaben, für dessen Detailplanung die EU eine Million Euro zur Verfügung stellt. Ob die Time Machine zur europäischen Flag-ship-Initiative gemacht und für die nächsten zehn Jahre mit einer Milliarde Euro ausgestattet wird, entscheidet sich Mitte 2020 (siehe Wissen unten).

Allein der Umstand, dass es ein in der Geisteswissenschaft beheimatetes Projekt in die Endrunde aus sechs hochkarätigen Bewerbern schaffte, ist für Aigner ein "historisches Ereignis".

Ausschlaggebend dafür sei auch die breite Allianz zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen, großen Kulturerbeinstitutionen und Unternehmen gewesen. Von Wirtschaftsseite mit im Boot ist etwa der französische Computerspieleentwickler Ubisoft Entertainment SA, eine der weltweit größten Videospielfirmen. "Die Spiele dieser Firma basieren zum Teil auf historischen Ereignissen und Szenerien, und unser Projekt liefert die genauen Daten für neue Entwicklungen."

Städtenetzwerk

Koordiniert wird das historische Großprojekt von Frédéric Kaplan, Professor für Digital Humanities an der École polytechnique fédérale in Lausanne. Mit seinem Team arbeitet er schon seit einigen Jahren an einer Time Machine für Venedig. Auch in anderen Städten wie Amsterdam, Paris, Jerusalem und Antwerpen entstehen bereits lokale "Zeitmaschinen".

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Basierend auf einer Art Franchisemodell sollen Wissenschaft, Behörden, Gedächtnisinstitute sowie Bürgerinnen und Bürger vor Ort eine nachhaltige Entwicklung des Projekts garantieren. Eine Standardisierte Plattform mit vielen Werkzeugen soll künftig der Vernetzung dienen.

Um alle Einrichtungen unter einen Hut zu bringen, wird zurzeit die "Time Machine Organisation" aufgebaut, eine internationale Vereinigung zur Zusammenarbeit in den Bereichen Technologie, Wissenschaft und kulturelles Erbe. "Es wird die größte derartige Organisation weltweit, und ihr Sitz ist in Wien", berichtet Aigner. Und falls es mit der EU-Milliarde doch nicht klappen sollte, kann diese Einrichtung das Projekt auch auf anderen Förderschienen vorantreiben.

"Woran wir arbeiten, ist nichts Geringeres als ein 'Google der Vergangenheit'", so Aigner. Das werde nicht nur Fortschritte in Sachen Transparenz und Demokratie mit sich bringen, sondern auch völlig neue Berufe und Geschäftszweige entstehen lassen. "Die mittels künstlicher Intelligenz aufgearbeiteten historischen Daten werden ein Potenzial entfalten, das wir uns heute noch gar nicht vorstellen können." (Doris Griesser, 17.4.2019)