Reinhold Mitterlehner missfällt "der respektlose Grundton, die offensichtliche Ausgrenzung, die versuchte Aufweichung der Gewaltentrennung und das versuchte Wegsperren von 'gefährlichen' Jugendlichen".

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Reinhold Mitterlehner meldet sich wieder zu Wort und kritisiert die Politik seines Nachfolgers Sebastian Kurz. Der frühere ÖVP-Chef und Vizekanzler präsentiert am Mittwoch sein neues Buch "Haltung". Im Gastkommentar zählt er Themen auf, bei denen es nicht Symbolik, sondern "wirklich wohlüberlegte, sachpolitische Veränderungen braucht".

Mit dem Slogan "Zeit für Veränderung" bei den letzten Nationalratswahlen haben viele Bürger den Aufbruch in die Zukunft mit neuen Chancen und positiver Entwicklung des Umfelds verbunden. Die Wirtschaftsentwicklung mit einer weltweit boomenden Konjunktur hat diese Erwartung punkto Einkommen und Arbeitsplatz bis jetzt durchaus erfüllt. Exakt diese Zeit einer prosperierenden Konjunktur sollte die Politik auch nutzen, um Reformen zu setzen, wenn das Wachstum wieder schwächer wird. Tatsächlich war das real und gefühlt dominante politische Thema die Flüchtlingsproblematik.

Stilisierung von Feindbildern

Es gab seit Regierungsantritt keine Woche, in der in Medien und Ministerratssitzungen dieser "Abwehrkampf gegen Überfremdung" nicht positioniert wurde. Dabei wurde der Ton immer rauer, die Maßnahmen immer mehr zur prinzipiellen Grundsatz- und Kulturfrage, dass Österreich Flüchtlinge mit anderer, vor allem islamischer Kultur nicht haben wolle. Die Ablehnungs- und Feindbildstilisierung funktionierte so gut, dass selbst deutlich sinkende Antragszahlen bei Asylanträgen seit 2018 offensichtlich als interner Auftrag verstanden werden, die Maßnahmen dauerhaft zu verschärfen.

Der respektlose Grundton, die offensichtliche Ausgrenzung, die versuchte Aufweichung der Gewaltentrennung und das versuchte Wegsperren von "gefährlichen" Jugendlichen – all das sind charakteristische Elemente einer rechtspopulistischen Politik. Das geht so weit, dass man Aufnahmezentren zu "Ausreisezentren" umfunktioniert und offen über "gemeinnützige Zwangsarbeit" und "Schädlingsbekämpfung" spricht. Den Satz "Wir müssen denen helfen, die es brauchen" hat man von österreichischen Politikern schon lange nicht mehr gehört.

Symbolik ohne echten Inhalt

Ein Kriterium einer rechtspopulistischen Ideologie ist, dass neben dem großen Feindbild, welches alles dominiert, die Zukunft gewissermaßen verschwindet und die Konzepte im sachpolitischen Bereich ziemlich dünn ausfallen. Eher beschränkt man sich auf Symbolik ohne echten Inhalt. Was wie eine Schwäche aussieht, ist auch ein Vorteil, weil man – da kaum vorhanden – auch nicht an eigenen Ansagen und Programmen gemessen werden kann. Ist deshalb Sachpolitik gewissermaßen "old-fashioned" und endgültig auf dem Abstellgleis? Nein, denn reine Symbolpolitik funktioniert nicht auf Dauer. Irgendwann, meistens früher, als man glaubt, sind die negativen Folgen mangelnder Sachpolitik nicht mehr zu kaschieren. Dem kann sich keine Regierung der Welt auf Dauer entziehen.

Das wirkliche Zukunftsproblem liegt bei der Klimakrise: Die Integrierte Klima- und Energiestrategie (IKES) gibt es als Papier, aber was tut man konkret? Da veranstaltet die Bundesregierung einen Plastiksackerl-Gipfel rund um das geplante Aus von Plastiksackerln. Schön und gut, aber nicht mehr als Symbolik. Wo bleiben die substanziellen Maßnahmen, etwa um 2030 ausschließlich Strom aus erneuerbarer Energie zu erzeugen? Deutschland hat etwa angesichts der Klimakrise ein eigenes Klimakabinett in der Regierung gebildet, das regelmäßig tagt und Maßnahmen vorbereitet. Wir hingegen werden bald über CO2-Strafzahlungen diskutieren.

Finanzierung der Pflege?

Ein weiteres Problem grundsätzlicher Art liegt im Pensionssystem: Das Thema kommt im Regierungsprogramm substanziell kaum vor, die Beiträge boomen ja angesichts der guten Beschäftigungslage. Doch schon 2020 werden wir das einzige Land in der EU sein, das mit der Angleichung des Frauenpensionsalters nicht einmal begonnen hat. Bald wird angesichts der Nachfrage nach Arbeitskräften ein Dilemma entstehen.

Auch beim Thema Pflege tickt eine Zeitbombe. Wir brauchen infolge der dynamischen Alterung der Bevölkerung und Nachfrage eine Klärung der Finanzierung. Erbschafts- und Vermögenssteuer kommen ideologisch wohl nicht infrage, also bleibt eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge übrig. Die will man aber – wie schon angekündigt – im Zuge der nächsten Steuerreform senken.

Politikerfiktion Funktionärsmilliarde

Gleichzeitig soll in den zusammengelegten Gebietskrankenkassen eine Milliarde eingespart werden. Die Einsparung durch die Kosten der Funktionärsmilliarde wird es wohl nicht sein können, denn die war eine Politikerfiktion, tatsächlich waren es nicht mehr als fünf Millionen Euro an Kosten. Wie schaut es bei sinkenden Beiträgen mit den Leistungen für die Versicherten aus? Da man nicht gut kürzen kann, bleibt nur der Steuertopf. Dann ist das System der Selbstverwaltung wohl endgültig passé. Die Folge wäre ein zentrales System ohne internen Wettbewerb, man kann gespannt auf die zukünftige Preis- und Leistungsentwicklung blicken.

Oder das Thema Steuerreform: Da plant man eine Reform, die bald präsentiert werden soll. Gewissermaßen als Vorgriff gab es gleich zu Beginn der Regierungsperiode eine Entlastung der Familien, was natürlich zumindest für steuerzahlende Familien positiv ist. Eigentlich wäre es besser, dieses Geld im Rahmen einer systematischen Gesamtreform zur Kappung der kalten Progression zu verwenden. Deutschland überlegt immerhin auch eine ökologische Steuerreform. Hier schließt sich wieder ein Kreis, damit wären wir nämlich wieder beim ersten Stichwort Klimawandel.

Vision von Zukunft

Dies ist nur eine beispielhafte und keine taxative Aufzählung. Würde die Regierung der Sachpolitik mit der gleichen Energie und Dynamik wie dem Flüchtlingsthema begegnen, hätten wir so etwas wie eine Vision von der Zukunft.

Die Themen, bei denen es wirklich wohlüberlegte, sachpolitische Veränderungen braucht, um einer erfolgreichen Zukunft gerecht werden zu können, liegen zumindest auf der Hand. Es ist tatsächlich "Zeit für Veränderung". (Reinhold Mitterlehner, 16.4.2019)