Seit Jahren ist Jeremy Corbyn mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert (Bild: eine Demo aus dem Jahr 2018 vor der Labour-Parteizentrale).

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Im Londoner Jüdischen Museum gibt es derzeit eine brillante Ausstellung zum Thema "Juden, Geld, Mythos". Viele historische Beispiele zeigen jüdische Bankiers und Geschäftsleute, deren angeblich überproportionaler Einfluss auf europäische Gesellschaften durch die Jahrhunderte immer wieder Antisemiten zu grotesken Geschichtslügen anregte.

Ganz unscheinbar in einer Ecke ist eine Fotografie aus der Brick Lane im Londoner East End zu sehen. Das Werk Freiheit für die Menschheit des US-Graffitikünstlers Mear One alias Kalen Ockerman zeigt Geschäftsleute in Anzügen, mit Rausche- oder Schnurrbärten und Hakennasen, die auf dem Rücken nackter, kahlgeschorener Menschen Monopoly spielen. Als der damalige Bürgermeister von Tower Hamlets, der Muslim Lutfur Rahman, 2012 die antisemitische Darstellung beklagte und ihre Entfernung durchsetzte, solidarisierte sich ein Londoner Labour-Abgeordneter auf Facebook mit dem Künstler.

Vorwürfe der Verharmlosung von Judenhass

Wäre Jeremy Corbyn ein unbekannter Hinterbänkler geblieben wie in den 32 Jahren zuvor, hätte sich wohl niemand um das Kurzzeit-Kunstwerk gekümmert. Seit dreieinhalb Jahren aber amtiert der mittlerweile 69-Jährige als Vorsitzender der Labour Party – und etwa genauso lang reißen die Vorwürfe nicht ab, der selbsterklärte Antirassist messe mit zweierlei Maß: hier Empörung über jedes Anzeichen von Islamophobie und Solidarität mit den Palästinensern in deren Kampf für den eigenen Staat – dort bestenfalls Achselzucken oder sogar Verharmlosung von offenem Judenhass und Israel-Bashing.

Wie wenig Unterschied in den Köpfen vieler Labour-Linker zwischen der Opposition gegen die Palästinenserpolitik Israels und offener Judenfeindlichkeit besteht, hat jetzt unfreiwillig der justizpolitische Sprecher Richard Burgon, ein enger Gefolgsmann Corbyns, offenbart: "Zionismus ist der Feind des Friedens" – dieses Zitat stritt er so lange ab, bis das Video einer Rede auftauchte, in der der damals 34-Jährige 2014 genau jenen Satz sagte. Er bedaure seine Worte, sagte Burgon am Mittwoch: "Sie entsprechen nicht meiner Haltung." Daran haben viele ihre Zweifel.

Eine Gruppe von Labour-Mitgliedern, die Jewish Labour Movement, hat der Parteiführung erst kürzlich das Misstrauen ausgesprochen, weil parteiinterne Disziplinarverfahren wegen Antisemitismus verschleppt würden.

"Tief gesunken"

Und kürzlich haben elf Parlamentarier die Unterhausfraktion verlassen und ihren Austritt zumindest teilweise mit Labours ungeklärter Haltung zum Antisemitismus begründet. In die Partei habe seit Corbyns Wahl eine "Stimmung von Intoleranz, Garstigkeit und Einschüchterung" Einzug gehalten, glaubt der Veteran Frank Field. Ein anderer Ex-Labour-Mann, Ian Austin, empfindet die Tatsache, dass Burgon seinen Posten nicht verloren hat, als Zeichen dafür, "wie tief Labour gesunken ist".

Ein einflussreicher Hinterbänkler nimmt Labour in Schutz. "Wir sind keine antisemitische Partei", beteuert Ex-Minister Hilary Benn, der jetzt den Brexit-Ausschuss im Unterhaus leitet (siehe unten), zum STANDARD. "Ganz eindeutig gibt es Antisemiten unter den Mitgliedern, und für sie sollte in unserer Partei kein Platz sein." Ob aber der Chef selbst dazugehört?

Es war Ex-Staatssekretärin Margaret Hodge, die den Parteichef 2018 als "Antisemiten und Rassisten" brandmarkte. Später tauchten Bilder auf, die Corbyn 2014 bei der Kranzniederlegung für mehrere vom Mossad getötete Drahtzieher des Olympia-Attentats von München 1972 zeigten – damals hatten palästinensische Terroristen elf israelische Athleten und Trainer sowie einen deutschen Polizisten ermordet. Er sei damals "anwesend, aber nicht beteiligt" gewesen, rechtfertigte sich Corbyn und sprach von seiner Gegnerschaft gegen jegliche Gewalt: "Frieden gibt es nur durch Dialog." (Sebastian Borger aus London, 17.4.2019)