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Trainer Erik ten Hag sagt: "Wir haben wundervolle Spieler."

Foto: REUTERS/Alberto Lingria

Rosamunde Pilcher hätte sich am Dienstagabend gefreut. Da erschien in Turin ein bis dato unbekannter Kitschroman, den wohl nicht einmal die im Februar verstorbene Meisterin der Romantik zusammenbekommen hätte. Selbst für sie wäre dieses Märchen zu unrealistisch gewesen, in einer Fußballwelt, in der der europäische Fußballverband (Uefa) schon seit Jahren jegliche Romantik zensiert. Am Ende gewinnt hier stets der Reiche, nicht das Mauerblümchen oder die Tulpe aus Amsterdam.

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Amsterdamer Jubel in Turin. Der Sieg gegen Juventus hatte mit Glück nicht einmal am Rande zu tun, er war absolut verdient.
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Bis zum AFC Ajax dürfte sich dies jedoch nicht herumgesprochen haben. Die Niederländer stehen nach dem 2:1-Auswärtssieg bei Juventus Turin sensationell im Halbfinale der Champions League, erstmals seit 22 Jahren. Mit einer Spielweise, die ganz Europa verzückt. Der Underdog spielt nicht wie ein Underdog. Kein Mauern, sondern pure Spielfreude, mit der bereits Titelverteidiger Real Madrid in der Runde zuvor auswärts 4:1 überrannt wurde.

"Als wir das letzte Mal im Semifinale waren, war ich noch nicht geboren", sagte der 19-jährige Matthijs de Ligt, Ajax-Kapitän und Siegtorschütze in Turin. Damals, 1997, scheiterte der Klub just an Juventus. Es war das Ende einer Ära. Den Champions-League-Sieger von 1995 und Finalist von 1996 traf die Bosman-Entscheidung am härtesten. Der Europäische Gerichtshof legte darin fest, dass Fußballer nach Ende des Vertrags ablösefrei den Verein wechseln konnten. Das Erfolgsteam zerfiel, weil die niederländische Eredivisie zu unbedeutend wurde, die großen Ligen mit Geld lockten.

Große unter sich

Dieser Zustand verschlimmerte sich zuletzt. Die Europacup-Reform erschwert kleinen Vereinen den Zugang zur Königsklasse, die Großen sollten unter sich bleiben. Bis eben Ajax kam. "Lektion von Baby-Ajax", titelte die italienische Zeitung "Corriere dello Sport" am Mittwoch. Seit 1751 Spielen in Folge setzten die Niederländer auf mindestens einen Absolventen aus der eigenen Jugendakademie "De Toekomst" – die Zukunft. Der Club will Geschichte mit der Zukunft schreiben.

Donny van de Beek gehört dazu. Der 21-Jährige traf am Dienstag zum wichtigen 1:1 in Minute 34. Jene Zahl, die sein Kumpel Abdelhak Nouri auf dem Rücken trug – an ihn musste er auch dabei denken. "Kein Zufall", sagt van de Beek. Nouri erlitt 2017 in einem Testspiel einen Herzinfarkt und muss seither mit schweren Hirnschäden sein Leben bewältigen.

2017 war generell ein schwieriges Jahr. Nach dem verlorenen Europa-League-Finale verschwand Erfolgstrainer Peter Bosz nach Dortmund, der Verein verpasste die Europacup-Gruppenphase. Nach dem Cup-Aus zu Jahresende wechselte Marc Overmars auch den Trainer und holte Erik ten Hag, dem anfangs Gegenwind entgegenschlug. Mittlerweile gilt er als Held, formte er doch die beste Mannschaft seit den 90ern. Mindestens.

"Ich will Ballbesitz, um dem Gegner wehzutun", beschrieb Erik ten Hag in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" seine Philosophie, die jene von Bosz noch verfeinerte. Neben dem bedingungslosen Pressing, das wie Bluthunde die Gegner jagt, glänzt Ajax mit grandiosem Umschaltspiel. "Es ist schwer, gegen uns zu spielen", sagt ten Hag über Ajax. "Juve war wie Real ein bisschen verängstigt. Wir haben technisch wundervolle Spieler, die schwer unter Druck zu setzen sind."

Verbundene Augen

Wenn jemand dafürsteht, ist das Frenkie de Jong. Eine ganze Armee könnte den 21-Jährigen umzingeln, und der Oranje-Youngster würde noch immer seelenruhig mit verbundenen Augen die Lücke finden. "Ich hatte meinen Spaß", sagte er nach dem Spiel am Dienstag. 2015 überwies Ajax für ihn einen symbolischen Euro an Willem II Tilburg, die aber eine Weiterverkaufsklausel erhielten.

Trotzdem ist dieser Euro auch für die Einkaufspolitik von Ajax symbolhaft. Denn jahrelang ließ Overmars den Verein ausbluten. Motto: teure Verkäufe, billige Einkäufe. Eine Rechnung, die international nicht aufging. 2016 verpassten die Niederländer mit einem 1:4-Debakel gegen den russischen Klub Rostov die Champions League – die Kehrtwende in der Transferpolitik.

Seither wird Ajax nicht mehr beim erstbesten Angebot für Talente schwach und reinvestiert die Einnahmen in den Kader. Ein routiniertes Gerüst sollte mit der frechen Jugend die perfekte Mischung bilden. So kamen Hakim Ziyech, Dusan Tadic und Daley Blind für jeweils zweistellige Millionensummen. Im internationalen Vergleich Peanuts. Juventus gab allein für Cristiano Ronaldo mehr als das Doppelte aus. Aber bereits Johan Cruyff, die Lichtgestalt im niederländischen Fußball, sagte zu Lebzeiten: "Wieso soll man einen reicheren Klub nicht bezwingen können? Ich habe noch nie gesehen, dass ein Geldsack Tore schießt."

Ajax-Vorstandsboss Edwin van der Sar: "Geld ist uns egal. Uns geht's um Fußball." Im Sommer wird das Team trotzdem zerfallen. De Jongs Wechsel nach Barcelona für 86 Millionen ist bereits fix, de Ligt dürfte ihm folgen. Es ist das erste und letzte Jahr dieser Erfolgself. Bis dahin lebt Ajax den eigenen Traum. Im CL-Halbfinale gegen Tottenham. (Andreas Gstaltmeyr, 17.4.2019)