Erinnerungsbehelf: Frederic Mortons (1924-2015) Schreibmaschine.

ÖNB

Als Autorin oder Autor in Wien zu leben bedeutet gelegentlich auch nur, von der Stadt absehen zu können: von Wien, einer Metropole, die ohnehin dazu neigt, ihrem eigenen Klischee zum Verwechseln ähnlich zu sein. Es gab seit 1938 zum Beispiel eine Reihe von Schriftstellern, die Wien entbehren mussten, weil die eigenen Nachbarn sie aus der gemeinsamen Stadt vertrieben hatten.

Die Ausstellung Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek enthält genügend Hinweise auf ein solches unfreiwilliges Abhandenkommen. Die "Vergessenshauptstadt" bedurfte nach Beendigung der Naziherrschaft einiger äußerst selbstloser Versuche, um von ihren besten Schreibkräften als wiedererrungene Bleibe neu ins Herz geschlossen zu werden.

Es erscheint in solchem Kontext würdig und recht, dass die Gemeinde Wien 2002 Frederic Mortons autobiografischen Roman Ewigkeitsgasse für die Aktion "Eine Stadt. Ein Buch" ausgewählt hat.

Vordem vertriebene oder verfolgte jüdische Autorinnen wie Ilse Aichinger, Elfriede Gerstl oder Hilde Spiel warfen nach 1945 frische, aber auch zögerliche und vorsätzlich ernüchterte Blicke auf Wien. Und das Abtauchen in die Kanalisation der Stadt, im Museum exemplarisch vorgeführt anhand des Filmes Der dritte Mann (nach Graham Greene), schien ein probates Mittel, das Doppelleben der Wiener – mit seinen diversen moralischen Buchführungsposten – illusionslos und dennoch spannungsreich abzubilden.

Heimito von Doderers "Die Dämonen"

Auch hier leistet die Sonderausstellung, gemeinsam kuratiert von Katharina Manojlovic und Bernhard Fetz, Außerordentliches. Man stolpert über Schautafeln, über Typoskripte und Plakate, die den Glanz und zugleich das ganze heimische Elend auf den Punkt bringen: "Für mich ist es einfach eine Stadt aus würdelosen Ruinen ...", äußerte Greene übrigens anlässlich seines Recherchebesuchs 1948. Die besonders eindringliche Darstellung von Heimito von Doderers Opus magnum Die Dämonen erinnert ohnehin an die merkwürdigen Dehnungen und Streckungen, denen sich Autoren aussetzten, die ihre vormalige Parteinahme für das "Dritte Reich" übergingen, indem sie ewig-menschlich wurden.

Mit Fortdauer der Wiederaufbauzeit in Wien kommt den Ausstellungsmachern ihr Thema leider etwas abhanden. Das Ausgreifen in die Welt führt die Dichterinnen und Dichter hinaus auf die "Ödstätten". In die anno 1970 noch unkartografierte Peripherie, wo Land und Stadt oft zu beider Nachteil ineinander verschränkt waren.

Man findet in der Schau exotische Gedichte aus der Feder des Polyhistorikers Friedrich Heer; man bewundert Regionales aus der Schreibmaschine Peter Henischs. Ausgerechnet Thomas Bernhard und Peter Handke, die beiden großen Nicht- und Anti-Wiener der heimischen Nachkriegsliteratur, wollte man keinesfalls aussparen. Beide werden mit zwei Texten zum Davonlaufen, Gehen und Die morawische Nacht, gewürdigt. Beides großartige Bücher. Aber hätte man nicht z. B. ebenso gut Bernhards Wittgensteins Neffe aussuchen können?

Klaffende Leerstellen

Und so kommt man aus dem Staunen kaum heraus, was der Ausstellung alles abgeht: Es fehlen Peter Roseis erzählerische Wien-Chroniken, angefangen mit dem bürokratischen Weltuntergang von Bei schwebendem Verfahren (1973). Die kaum zu überschätzende Lyrik Andreas Okopenkos, die nach Floridsdorf duftet, bleibt komplett ausgespart.

Keine Erwähnung findet H. C. Artmanns Kult um Breitensee, wie weggefegt scheint die Erinnerung an die sensiblen lyrischen Wien-Evokationen Gerald Bisingers. Und was eine Wien-Literaturschau ohne Seitenblick auf Jörg Mauthes Die große Hitze bedeuten soll, ohne Eisenreich, Rühm (hosn rosn baa), Zand, Fritsch, bleibt einigermaßen rätselhaft. (Ronald Pohl, Stefan Gmünder, 19.4.2019)