Bild nicht mehr verfügbar.

Nicht gerade bürgernah, finden die meisten Unionsbürger: das Europäische Parlament in Straßburg.

Foto: reuters/vincent kessler

Kritiker bezeichnen sie oft als elitär, bürgerfern, undemokratisch. Innovation und direkte Demokratie sind es dagegen nicht unbedingt, die gemeinhin mit der EU in Verbindung gebracht werden. Dabei gibt es auch auf europäischer Ebene durchaus Möglichkeiten der Beteiligung, doch die sind kaum bekannt und kommen nicht wirklich bei den Bürgern an. Der Politologe Markus Pausch von der FH Salzburg findet, die EU solle sich mehr trauen.

Oder tut sie das sogar schon? Estland wird in diesem Zusammenhang oft als Paradebeispiel eines fortschrittlichen Mitgliedstaats genannt: Seit 2005 können die Esten bei nationalen Wahlen ihre Stimme auch online abgeben. E-Voting ist zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht unumstritten, es lässt sich aber zumindest als demokratische Innovation einstufen. Diese soll die Demokratie inklusiver machen und mehr Beteiligung ermöglichen. Und tatsächlich wählten in Estland 2003 noch rund 58 Prozent der Wahlberechtigten, während die Beteiligung bei der Parlamentswahl im März bei 63 Prozent lag.

Bürgerbeteiligung kein Allheilmittel

Der Vorstoß der Esten ist trotzdem nicht gerade revolutionär. Die Innovation sei eher technisch statt demokratisch, sagt Sandra Eckert, Politikwissenschafterin an der Uni Frankfurt. Zusätzlich zur Briefwahl könne nun eben auch online gewählt werden. "Das E-Voting senkt vielleicht Hürden, es erfindet das Rad aber nicht neu", sagt sie. Auch die Direktwahl zum Europäischen Parlament galt einmal als Innovation – als sie 1979 eingeführt wurde. Dass die Bürger ihre EU-Abgeordneten direkt wählen konnten, war damals neu. Heute wird bei dem Ruf nach Innovation mehr gefordert als das Recht zu wählen. Bürger mehr einzubeziehen könne ein Gegenmittel zu Populismus und gesellschaftlicher Spaltung sein, meint Eckert.

Damit das gelingen könne, dürfe die EU den Nationalstaaten jedoch nicht von oben herab vorschreiben, was fortschrittlich sei, betont Markus Pausch, der sich mit Demokratie- und Partizipationsfragen beschäftigt. Denn nationale Gegebenheiten unterschieden sich stark, und Bürgerbeteiligung sei kein Allheilmittel. Das zeige sich zum Beispiel in der Schweiz: Dort gebe es zahlreiche direktdemokratische Abstimmungen, die Wahlbeteiligung sei jedoch niedrig. Pausch fordert, die EU müsse bei ihren eigenen Institutionen beginnen.

Das Problem der Unverbindlichkeit

Aber ist EU-weite Partizipation außerhalb von Wahlen überhaupt denkbar? Möglichkeiten dazu gibt es schon jetzt: Die Europäische Bürgerinitiative ist eine davon. Um eine Initiative zu starten, müssen sieben wahlberechtigte EU-Bürger aus verschiedenen Mitgliedstaaten diese unterstützen. Außerdem sind eine Million Unterstützungserklärungen nötig. Sind die erreicht, muss die Europäische Kommission entscheiden, ob sie tätig wird. Erfolgreich waren bisher nur wenige Initiativen.

Und auch Online-Konsultationen, mit denen die Europäische Kommission versucht, die Bürger in den Gesetzgebungsprozess einzubeziehen, werden selten öffentlich diskutiert. Eine Ausnahme ist die kürzlich entschiedene Debatte um die Abschaffung der Zeitumstellung. Doch meist beteiligen sich diejenigen, die sowieso politisch interessiert sind und unter Politikwissenschaftern als "Berufsbürger" bezeichnet werden. Die Beteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament war zuletzt sinkend.

Markus Pausch geht daher einen Schritt weiter. Er fordert, klassische, direktdemokratische Beteiligungsverfahren wie Bürgerräte, die es vor allem auf lokaler Ebene bereits gibt, auch auf EU-Ebene anzuwenden: "Ja, man sollte das probieren", findet Pausch. Und fügt hinzu: "Die Erwartungen sollten nicht zu hoch sein, aber die Vorteile solcher Verfahren überwiegen."

Nicht nur die "üblichen Verdächtigen"

In Österreich ist das nichts Neues. Seit einigen Jahren gibt es Bürgerräte auch auf Landesebene, zum Beispiel in Vorarlberg. Per Losverfahren werden Bürgerinnen und Bürger bestimmt, die verschiedene sozioökonomische Hintergründe haben. Anschließend diskutieren sie in moderierter Runde zu einem Sachthema.

Pausch schätzt besonders die Idee, dass Teilnehmer zufällig ausgewählt werden. Dass nur die "üblichen Verdächtigen" an den Verfahren teilnehmen, wie es meist bei anderen demokratischen Innovationen der Fall sei, könne so verhindert werden. "Ein Losverfahren ist ein guter Ansatz, um auch Menschen aus bildungsferneren Gruppen einzubinden", sagt Pausch. Er könnte sich Bürgerräte auf europäischer Ebene als ständiges Begleitinstrument der europäischen Politik vorstellen.

Die EU brauche dafür mehr Mut. "Heute ist das wahrscheinlich noch eine Utopie", gibt er zu, und der politische Wille für mehr Bürgerbeteiligung fehle. "Aber wir brauchen eine mittelfristige Vision, um die Demokratie wiederzubeleben."

Dass das nicht ganz einfach ist, zeigen die bestehenden Instrumente. Sandra Eckert findet es daher wichtig, Themenbereiche, bei denen Bürger sich beteiligen können, bewusst zu wählen. "Da eignen sich etwa die Landwirtschaftspolitik oder auch nationale Umsetzungsprozesse von EU-Bestimmungen", sagt sie. Ein Beispiel für Letzteres sei etwa die aktuelle Urheberrechtsreform oder Maßnahmen zur Luftreinhaltung in großen Städten.

Europawahlen gelten als zweitrangig

Die Wahlbeteiligung bei Europawahlen würde zwar trotz allem so schnell nicht steigen, glaubt Markus Pausch. Zusätzliche, bürgernahe Instrumente wären jedoch eine Chance, Brücken zu bauen zwischen EU-Politikern und EU-Bürgern. Dazu sollten nicht nur 18-jährige EU-Bürger die Chance auf Interrail-Tickets haben, um Europa zu entdecken, "die EU-Kommission könnte umgekehrt auch Interrail-Fahrten durch die Mitgliedstaaten machen", schlägt Pausch ganz neue Möglichkeiten vor, um Öffentlichkeit und Nähe zu schaffen. Denn bisher sei es eine Seltenheit, dass man zum Beispiel EU-Politiker in Wien sehe.

Dem Politologen Markus Pausch zufolge ist das ein seltenes Bild: Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn in Wien.
Foto: apa/Hans punz

Für die Europawahlen hält Pausch ein inklusives Wahlrecht für notwendig, also eines, das mehr Bürger mit einbezieht. In Österreich (und seit 2018 auch in Malta) darf schon ab 16 Jahren gewählt werden. Seit der letzten Europawahl 2014 erarbeitete das Europäische Parlament einen Vorschlag für Reformen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Die darin enthaltene Richtlinien wurden bisher jedoch längst nicht in allen Mitgliedstaaten umgesetzt. So forderte das Parlament bisher vergeblich eine einheitliche Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. (Milena Pieper, 19.4.2019)