Ferdinand von Schirach: versucht die Menschen in ihrer Unbegreiflichkeit zu begreifen.

Foto: Niko Schmid-Burgk

Das mit dem Bösen und wie es in die Welt kommt, hat die Menschen schon immer umgetrieben. Ist Gott jetzt nicht unfehlbar, oder ist er nicht allgütig, hat er das Böse am Ende gewollt und, wenn ja, warum?

Nach Gottes Tod wurde die Sache auch nicht einfacher: Ist der Mensch per se böse, werden es nur manche, so wie man sich eine Krankheit einfängt – und was ist dieses Böse eigentlich? Zur Zufriedenheit geklärt werden konnte eigentlich keine dieser Fragen, es ist halt, wie es ist.

Einer, den diese Fragen nicht nur aus persönlichen Gründen umtreiben, sondern der auch beruflich reichlich Anschauungsmaterial zur Verfügung hat, ist Ferdinand von Schirach, Autor von Werken wie Verbrechen, Schuld, Tabu oder Terror. Der thematische Schwerpunkt dürfte klar sein. Gerade ist sein Roman Der Fall Collini verfilmt worden, es geht um NS-Verbrechen und Verjährungsfristen, Elyas M'Barek spielt die Hauptrolle.

Autor und Strafverteidiger

Von Schirach ist ein internationaler Bestsellerautor – er ist aber vor allem auch Strafverteidiger. In den sogenannten Mauerschützenprozessen hat er zum Beispiel Günter Schabowski verteidigt, der mit den Worten "sofort, unverzüglich" mehr oder weniger die Mauer zu Fall brachte.

Von Schirachs Verhältnis zur deutschen Geschichte ist aber noch weit enger, privater: Er ist der Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach, der als Gauleiter von Wien zeitweilig die Hofburg bewohnte. Die Deportation von Juden aus Wien sei ein "aktiver Beitrag zur europäischen Kultur", zitiert ihn der Enkel in seinem neuen Erzählband Kaffee und Zigaretten.

Er berichtet in diesem Kapitel von der Begegnung mit einer ukrainischen Anwältin, die in ihrem Land versucht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu dokumentieren. Ihre Großeltern wurden aus Wien deportiert und schließlich ermordet. Für beide sind ihre Vorfahren, ob Opfer oder Täter, zur Hypothek, aber auch zur Aufgabe geworden. "Vielleicht bin auch ich aus Wut und Scham über seine Sätze und seine Taten der geworden, der ich bin", schreibt von Schirach.

Lösungen gibt es nicht

Warum der Band den Titel Kaffee und Zigaretten trägt, erschließt sich nur bedingt – weder hat er sonderlich viel mit dem Film von Jim Jarmusch zu tun, noch sind Kaffee und Zigaretten das Wichtigste, worum es darin ginge. Gut, in Kapitel 16 wird dem Kettenraucher der Nation, Helmut Schmidt, gehuldigt. (Ein Text, der wie einige andere Beiträge bereits vorab erschien, etwa im Rolling Stone oder, wie dieser, im Spiegel.)

Aber eigentlich geht es in diesen 48 (teils autobiografischen) Erzählungen, Erinnerungen, Notizen und Beobachtungen um viel mehr. Streng genommen sogar um alles. Und in Wahrheit immer um dasselbe. Um den Menschen in seiner ganzen Unbegreiflichkeit, um die Begriffe, die er sich zur Stütze gebaut hat: Glück, Schuld, Würde, Recht, das Böse.

Erklärungen, Lösungen gibt es nicht. Oder, wie von Schirach in einem Michael Haneke gewidmeten Kapitel schreibt: "Hanekes Filme sind gültig, weil sie uns selbst in Frage stellen. Sie zeigen, dass es keine Antworten gibt. Das ist vielleicht unsere einzige Wahrheit, ich habe lange gebraucht, das zu verstehen."

Von Schirach hat nicht umsonst den Ruf, ein herausragender Erzähler zu sein. Aber er ist viel mehr als das. Sein Blick auf die Dinge enthüllt Verbindungen, die man so nie gesehen hat. Er gibt den Dingen eine Atmosphäre, ein Licht, eine Farbe – was vielleicht auch daran liegt, dass er nach eigener Aussage Synästhetiker ist. Vor allem in den Erzählungen aus seiner Kindheit und Jugend erzeugt er mit wenigen Sätzen eine Dichte, die einen die Szenen regelrecht spüren lässt.

In Beziehung gesetzt

Er hat daneben aber auch, für einen Schriftsteller eine nicht ganz unerhebliche Fähigkeit, die intellektuelle Kapazität, um von den Dingen nicht nur erzählen, sondern sie auch durchdringen zu können. Wenn er etwas beschreibt, dann hat das einen Grund, eine Aussage – für die er aber keine Worte braucht. Die Dinge erschließen sich selbst und einander, weil er sie in die richtige Beziehung setzt.

Er erzählt von Kriminalfällen, die er als Verteidiger erlebt hat, Gerichtsurteilen, Erinnerungen an die Kindheit (die teilweise in der dritten Person erzählt, aber eindeutig autobiografisch gefärbt sind), Begegnungen mit dem Dichter Lars Gustafsson oder einem besoffenen Mick Jagger in einem Londoner Kino.

Auch eine namentlich nicht genannte rechtspopulistische Partei im Deutschen Bundestag taucht auf, der hetzende Mob in den Online-Kommentarspalten, der nach einem Recht ruft, das "dem Volk" nützt. Was Recht ist und was die Würde des Menschen, das muss immer wieder neu verhandelt und verteidigt werden.

Das Böse wiederum, das gibt es gar nicht. "Als ich jung war, schien mir eine der wichtigsten Fragen zu sein: Was ist das 'Böse'?", schreibt er in dem Kapitel über Michael Haneke. Aber nach zwanzig Jahren als Strafverteidiger habe er begriffen, "dass die Frage, ob der Mensch gut oder böse ist, eine ganz und gar sinnlose Frage ist". Es gibt ja nur den einen Mensch. Und der kann alles sein. (Andrea Heinz, 20.4.2019)