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Dass nicht einmal ein ewiges Wahrzeichen wie Notre-Dame sicher ist, hat für einen globalen Schreckmoment gesorgt. Das sollte zum Nachdenken anregen.

Foto: AP Photo / Thibaut Camus

Es war vielleicht nur ein winziger Kurzschluss weit oben im hundert Meter langen Dachstuhl der Kathedrale. Der Schock aber war gewaltig – und planetar. In der ganzen Welt verfolgten bestürzte Menschen live an ihren Bildschirmen, wie immer höhere Flammen aus dem Pariser Wahrzeichen schlugen, wie der filigrane Dachreiter durch das Gebälk schlug, der Brand sich Richtung Glockenturm vorfraß. Blanker Schrecken bemächtigte sich der Zuschauer: Was, wenn Notre-Dame abbrennen würde? Was, wenn dieses grandiose Meisterwerk der Gotik, das Herz der abendländischen Kultur als verkohlter Trümmerhaufen enden würde?

Unmöglich, undenkbar. Inzwischen wissen wir allerdings: Es war sehr knapp. Die Feuerwehrleute besiegten den Brand im letztmöglichen Moment, bevor er auf den Nordturm und die ganze Bausubstanz übergreifen konnte. Noch eine Viertelstunde, und die große alten Dame wäre zu Schutt und Asche verfallen.

Symbol für die Karwoche

Auch so ist die Kathedrale schwer lädiert, eine offene Wunde. Aber sie wird weiter existieren. Man kann darin ein Symbol für die Karwoche sehen: Notre-Dame wird wiederauferstehen. Nicht in drei Tagen, eher in drei Jahrzehnten, aber immerhin. Von einem Martyrium ist in den Medien die Rede, gar von Fegefeuer. Dabei geht die Bedeutung von Notre-Dame, das wurde schon oft erwähnt, weit über den christlichen Glauben hinaus.

Die aus dem zwölften Jahrhundert stammende Kathedrale, die schon Saint-Louis und Jeanne d'Arc feierte, die Revolutionen und Weltkriege überlebte, Staatsmänner wie de Gaulle und Mitterrand zu Grabe brachte, sie war auch Epi- und Energiezentrum. Nicht zufällig geografischer Nullpunkt einer konzentrisch organisierten Nation; nicht nur Gotteshaus, sondern auch eine "Kathedrale der Poesie" (so Historiker Jules Michelet im 19. Jahrhundert), auf deren Vorplatz sich Studenten zum Rendezvous trafen, wie sich Frauenministerin Marlène Schiappa diese Woche erinnerte.

Der Wille zum Widerstand

Frankreich ist einmal mehr hart getroffen. Doch wie bei den Terroranschlägen in Paris und Nizza erholt und erhebt sich das Land von dem Schlag ins Innerste, Heiligste der Nation. Die üblichen Komplotttheorien verflüchtigen sich indizienlos. Und fast trotzig verblieb die Pariser Jugend am Montagabend auf den Terrassen des Quartier Latin – aufgewühlt, teils in Tränen, aber mit dem gleichen Willen zum Widerstand wie bei den Anschlägen von 2015.

Der Wiederaufbau von Notre-Dame scheint finanziell bereits gesichert. Wobei die teils neunstelligen Spenden fast etwas Anstößiges haben, auch wenn diverse Milliardäre erklärt haben, sie würden sie nicht von den Steuern abziehen. Für die über 3000 Obdachlosen in Paris ist bedeutend weniger Geld vorhanden als für eine Gebäuderenovierung.

Emmanuel Macron will, dass der Wiederaufbau schon in fünf Jahren beendet sein wird, rechtzeitig zu den Olympischen Spielen in Paris 2024. Laut Architekten ist das eine viel zu kurze Frist – aber was soll's, der nationale Elan ist intakt. Zur Tagesordnung überzugehen, ist allerdings nicht möglich. Die Beinahekatastrophe ist für Frankreich ein Appell. Die Gewalt der Gilets jaunes muss ein Ende haben. Niemand würde verstehen, wenn es an diesem Wochenende in den Pariser Straßen zu neuen Krawallen kommen würde.

Keine Tricks von Macron mehr

Aber auch Macron muss in sich gehen. Der Brandausbruch stoppte am Montagabend abrupt, ja wie von Gottes Hand, seinen groß inszenierten Fernsehauftritt zur Bewältigung der Gelbwestenkrise. Die Franzosen wollen, dass ihr Präsident jetzt entschlossen und sachdienlich handelt, ohne Kommunikationstricks und ohne Seitenblick auf die Europawahlen Ende Mai.

Die Bilder der brennenden Notre-Dame haben aber weit über Frankreich hinausgewirkt. Und das nicht nur, weil das Kulturerbe der Unesco ein touristischer und ein religiöser Magnet ist. Die Feuersbrunst wirkte so verstörend, weil sie vor Augen führt, wie fragil und gefährdet unsere westlichen Gesellschaften geworden sind, wie rasant heute historisch Gewachsenes zerstört wird – sei es durch Jihadisten oder twitternde Volksverführer, Tsunamis oder mediale Shitstorms. Notre-Dame ist geradezu ein Gegenmodell dazu, die Antithese zur Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit der Selfie-Ära: Über die Jahrhunderte gebaut, strahlen die Kathedralen eine spirituelle Kraft aus und erfüllen das menschliche Bedürfnis nach Zeit, Stille und Tiefe.

Nachdenken

Über die Jahrhunderte gebaut, strahlen die Kathedralen eine spirituelle Kraft aus, für die längst nicht nur Christen empfänglich sind. Die erdumspannende Anteilnahme am Schicksal der Notre-Dame zeugt auch vom Gefühl, jahrhundertelang Gewachsenes zu verlieren. Es gilt darauf zu achten, dass diese Angst nicht von Rückwärtsgewandten vereinnahmt und politisch ausgeschlachtet wird. Die österliche Wiederauferstehung bedeutet nicht Restauration, sondern der Glaube an das Fortleben und die Weiterentwicklung der Menschheit. (Stefan Brändle aus Paris, 20.4.2019)