In die Karwoche startete der passionierte Tarockspieler Reinhold Mitterlehner mit einer Ansage. Der frühere Vizekanzler und ÖVP-Chef legte seine politische Biografie vor und fordert Haltung, so auch der Titel des Werks. War die Haltung, die er von seinem Nachfolger und Quertreiber Sebastian Kurz einfordert, auch bei ihm immer vorhanden?

Fest steht: Der Mühlviertler ist ein Politiker voller Widersprüche. Er ist ein Konservativer, der sich früh für eine gemeinsame Schule aussprach, ein Wirtschaftskämmerer, der zum roten Kanzler ein engeres Vertrauensverhältnis hatte als zu vielen Parteifreunden und ein Christlich-Sozialer, dem in der türkis-blauen Politikperformance genau diese Werte fehlen.

Beste Parteifeinde: Sebastian Kurz (links) will die Vorwürfe seines ehemaligen Parteichefs, ihn systematisch entmachtet zu haben, nicht kommentieren.

Rückblick ins Jahr 2014, das Jahr seiner Inthronisierung als ÖVP-Chef. Die Übergabe erfolgt ohne viel Pomp und Trara – und, so beschreibt Mitterlehner es jedenfalls selbst, ohne Intrigen von seiner Seite. "Und du übernimmst meine Vertretung im Ministerrat", habe sein Vorgänger Michael Spindelegger am Morgen seines Rücktritts im August 2014 zu ihm gesagt, berichtet Mitterlehner. Also habe er die en passant überreichte Führungsrolle instinktiv übernommen, sei fortan als designierter Parteiobmann und Vizekanzler im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit gestanden.

Diese Woche war es wieder so weit. Mit seinen Memoiren, die kaum ein Detail über seine Zeit im Chefsessel und das beständige Sägen an diesem durch den heutigen Kanzler und Konservativenchef Sebastian Kurz auslassen, rockte Mitterlehner die österreichische Innenpolitik.

Der brave Funktionär

Ausgerechnet Mitterlehner. Der brave Wirtschaftskammerfunktionär (von 1980 bis 1992 als Abteilungsleiter im Marketing, von 2000 bis 2008 als Stellvertreter des Generalsekretärs), spätere Wirtschaftsbündler (Geschäftsführer von 1992 bis 2000), langjährige Parlamentarier (von 2000 bis 2008) und spätere Minister (zunächst Wirtschaft, später auch Wissenschaft).

Sein Buch stößt auf enormes Interesse. Die Startauflage von 10.000 Stück ist drei Tage nach Erscheinen bereits vergriffen. Eine Abrechnung mit Widersacher Kurz wurde erwartet. Eine Klarstellung will Mitterlehner geliefert haben. Ihm sei es schlicht darum gegangen, seine Version der feindlichen Parteiübernahme dem von Kurz ausgegebenen Narrativ, er sei von Mitterlehners Rückzug im Mai 2017 völlig überrascht worden, entgegenzustellen.

Der heute 63-Jährige, der sich mittlerweile als Unternehmensberater selbstständig gemacht hat, sollte der 16. Obmann sein, den die Partei erfolgreich zum freiwilligen Rücktritt gedrängt hatte.

Dabei wurde sein Einfluss als Parteichef für Mitterlehner schon im April 2016 deutlich untergraben, also gut ein Jahr vor seinem Rückzug. Erwin Pröll, damals noch mächtiger Landeshauptmann von Niederösterreich, tauschte über Nacht den Innenminister aus.

Er setzte ihm den Hitzkopf Wolfgang Sobotka ins Team. Für Johanna Mikl-Leitner, bis dahin Ressortchefin, sei es Zeit, heimzukehren. Befand jedenfalls Pröll, der seine Vertraute rechtzeitig zur Nachfolgerin aufbauen wollte. Mitterlehner ließ ihn gewähren.

Sobotka als Sprengmeister

Wie so viele seiner Vorgänger sei auch Mitterlehner letztlich an der Formel "ÖVP ist gleich die Quadratwurzel aus Landeshauptleuten dividiert durch Ansichten der Bünde" gescheitert, analysiert heute der Politologe Peter Filzmaier. Insofern sei es ein Paradoxon, wenn die erfolgreiche Änderung dieser Formel dem heutigen Kanzler Kurz vorgeworfen würde.

Unbehagen hat Mitterlehner schon früher verspürt, mit Sobotka im Team wurde es für den geradlinigen, etwas sturen Oberösterreicher richtig ungemütlich. Seiner Beschreibung nach war es ausgerechnet der auf Law and Order setzende Innenminister, der sich zum Brutus und Sprengmeister der rot-schwarzen Koalition entwickeln sollte.

Am 21. August 2016 will die Krone bereits wissen: "Retten kann die ÖVP wahrscheinlich einzig und allein Senkrechtstarter Kurz (...)." Dass sich nämlich "Mitterlehner von seinem Dauertief erholt", sei "unwahrscheinlich", befand das Kleinformat mit dem speziellen Riecher.

Dass das Dauertief für Mitterlehner durchaus von der eigenen Partei gewollt und provoziert wurde, bestätigt auch ein roter Insider. Jeder Ministerrat wurde systematisch gestört, das sei nicht immer nur von Kurz oder Sobotka ausgegangen, auch der damalige Landwirtschaftsminister Andrä Rupprechter oder Finanzminister Hans Jörg Schelling hätten sich am Sabotieren der Regierungsarbeit beteiligt.

Unlösbare Herausforderung

Hatte er als Wirtschaftsminister noch den Ruf eines sachorientierten Pragmatikers, wurde der Versuch, innerhalb der Partei einen Konsens zu finden, eine unlösbare Herausforderung für Mitterlehner.

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Kurz wollte seine Karten nie auf den Tisch legen, so der Vorwurf an den Nachfolger. Auch jetzt schweigt der Kanzler zu Mitterlehners Darstellungen.
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Obwohl es seine Überzeugung ist, dass Österreich ein Einwanderungsland ist und die Zukunft des Landes nur mit Migranten machbar sei, weil sonst eine Überalterung drohe, paktierte er die virtuelle Obergrenze für Flüchtlinge, forderte dann die Halbierung von 35.000 Asylverfahren auf 17.500 pro Jahr und trug die Errichtung eines Grenzzauns gegen Flüchtlinge mit. Wie passt das zusammen? Er rechtfertigt das als Notmaßnahme, um eine europaweite Solidarität zu erzwingen.

Was seine Sympathien für die Gesamtschule anlangt, erklärt Mitterlehner heute, es sei "ein Problem innerhalb der eigenen Partei" gewesen, das durchzubringen. Dabei sei es ihm nie um die oft befürchtete Nivellierung nach unten gegangen, im Gegenteil: Gesamtschule bedeute eine "Förderung nach oben". Die Länder wollten nicht.

Ein Konzept für eine Neuregelung der Mindestsicherung habe er bereits in der Schublade gehabt. Natürlich mit "bestimmten Reduzierungen" und einer Anrechnung von Sachleistungen, allerdings: "nie unter dem Titel, dass die Mindestsicherung eine Art Flüchtlingsförderung sei". Kürzungen für Mehrkindfamilien wären für ihn nicht infrage gekommen.

Er will das Spiel gewinnen

Über seine Leidenschaft fürs Tarockieren sagte Mitterlehner als frischgekürter Parteichef dem Profil: "Ich spiele am liebsten ein Spiel, das ich gewinnen kann." Kurz wollte seine Karten nie auf den Tisch legen, so der Vorwurf an den Nachfolger. Auch jetzt schweigt der Kanzler zu Mitterlehners Darstellungen.

Die Reaktion von Kurz und seinem Kommunikationsteam auf die Anwürfe Mitterlehners ringt Filzmaier durchaus Respekt ab: Das sei eine lehrbuchmäßige Vorgangsweise. Wenn der Chef angegriffen wird, schickt er andere zur Verteidigung vor. So weit, so klar. "Bemerkenswert ist nur, dass es diesmal ÖVP gegen ÖVP ist", findet Filzmaier.

Spannend sei auch, wie und wie häufig sich Mitterlehner in Zukunft zu Wort meldet. Und ob ihm andere Kritiker zur Seite springen. Filzmaier glaubt, der frühere ÖVP-Chef "trifft eine Stimmungslage", in den Gemeinden und Ländern empfänden viele Schwarze mit christlich-sozialen Wurzeln "ein Unbehagen" gegenüber dem aktuellen Kurs der Partei.

Hat Mitterlehner noch einen Trumpf im Talon? Sucht er sich eine neue politische Heimat? Immerhin schwärmt er für die Oppositionspolitik der Neos, seine Mitgliedschaft bei der ÖVP wolle er aber keinesfalls zurücklegen. Und bei der anstehenden EU-Wahl macht er sein Kreuz wieder bei der ÖVP. (Marie-Theres Egyed, Karin Riss, 19.4.2019)