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Sie ist der ganze Stolz von Notre-Dame und gilt vielen als authentisches Zeugnis der Kreuzigung Jesu Christi: eine Dornenkrone ohne Dornen. Letztere verstreuten sich als verehrte Einzelreliquien über die Länder – auch in der Wiener Schatzkammer wird ein Dorn aufbewahrt.

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Der Legende nach verheißt sie ihrem Besitzer Unbesiegbarkeit auf dem Schlachtfeld: Die "Heilige Lanze" aus der Wiener Schatzkammer – datiert auf das achte Jahrhundert nach Christus. Das Objekt galt sowohl als Lanze Kaiser Konstantins als auch als Speer des Reichsheiligen Mauritius. Im Laufe des 13. Jahrhunderts wurde sie schließlich zur Lanze des Longinus, die Christus die Seitenwunde zugefügt hatte und die mit seinem Herzblut benetzt worden war.

Kunsthistorisches Museum

Ein Reliquiar mit einem Zahn Johannes des Täufers, ebenfalls aus der Wiener Schatzkammer. Johannes-Reliquien sind zahlreich und über die ganze Welt verstreut, ihre Echtheit wird in vielen Fällen angezweifelt. Der biblisch überlieferte Täufer von Jesus Christus soll geköpft worden sein, daher existieren auch zahlreiche Schädel-Reliquien.

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Die Feuersbrunst tobte noch, die Gefahr für Notre-Dame war noch nicht gebannt, als die Christenheit in der Nacht auf Dienstag die frohe Kunde ereilte: Die Dornenkrone Christi und ein Nagel des Kreuzes seien, nebst anderem, gerettet worden. Ganz so, wie es der minutiöse Evakuierungsplan vorsah, den die Einsatzkräfte in den vergangenen Jahren zweimal geübt hatten.

Diese beiden Objekte hatten bei der Evakuierung absolute Priorität, wie ein Sachverständiger später informierte – eine Vorschrift seit langem und unabhängig von dem bevorstehenden Fest der Auferstehung. Der Grund: Im Pantheon katholischer Reliquien stehen die dem Leidensweg Jesu Christi zugehörigen Objekte an der Spitze der Hierarchie.

Die Krone, die er bei seiner Hinrichtung trug, gilt quasi als Sahnehäubchen. Der symbolische Wert des in einem Kristallglaskranz mit Juwelen besetzter güldener Zier eingefassten Gestrüpps ist enorm. Wer sich fragt, warum die Dornen fehlen: Sie fristen seit Jahrhunderten ein separates Dasein als Einzelreliquien, etwa auch in der Schatzkammer in Wien.

Bestimmt jüngeren Datums

Ein Wunder eigentlich, dass das Distelgewächs in fast 2000 Jahren nicht verrottet ist. Sieht man von einem Flammeninferno ab, gehören Feuchtigkeit, Schadinsekten und Licht zum größten Gefahrenpotenzial, erklärt Bruno Wallnöfer. Der Kurator der botanischen Sammlung im Naturhistorischen Museum muss es wissen. Hölzer aus Pharaonengräbern, meint er, hätten sich aber auch gut erhalten.

Also nicht der geringste Zweifel an der Echtheit der Dornenkrone? Sie sei gewiss jünger, konkreten Aufschluss über ihr Alter könne aber nur die Radiokarbonmethode geben: Eine kostspielige Angelegenheit; und am Ende wäre die Krone entzaubert, wie unzählige andere Reliquien davor. Denn deren Kulturgeschichte ist geprägt von Täuschung.

Für alle in den Zweigstellen der katholischen Kirche verwahrten Splitter aus dem Kreuz Christi sind im Laufe der Jahrhunderte wohl ganze Wälder abgeholzt worden. Die weltweit verstreuten Gebeinreste von Heiligen sind ebenso wunderhaft zahlreich. Wären beispielsweise alle Fragmente von Johannes dem Täufer echt, dann hätte der Heilige sechs Köpfe und zwölf Hände gehabt.

Fälschern drohte Exkommunikation

Vordergründig drohte enttarnten Fälschern oder in den Betrug Involvierten die Exkommunikation. Ein Passus, der erst 1983 unter Papst Johannes Paul II. aus dem römischen-katholischen Gesetzbuch Codex Iuris Canonici entfernt wurde.

Tatsächlich war die Echtheit von Reliquien für die Kirche stets weniger relevant, als der damit verbundene wirtschaftliche Vorteil: Ein Kloster, das im Besitz eines außergewöhnlichen Objektes war, stieg im Idealfall zum Wallfahrtsort auf und profitierte von den opferbereiten – im Sinne von spendierfreudigen – Pilgern. Jedes Relikt hatte sich für dessen Besitzer innerhalb kürzester Zeit refinanziert, ganz egal wie viel man für einen Eisennagel hinblätterte, der seine Heiligkeit oft allein dadurch bewies, dass er schlecht rostete.

Zur Hochblüte war der Handel zur Zeit der Kreuzzüge gelangt, insbesondere nach dem Vierten, der 1204 mit der Eroberung und Plünderung Konstantinopels endete. Reliquien wurden in ganz Europa an Bestbieter verteilt: darunter das Turiner Grabtuch, das möglicherweise um 1300 bemalt worden war, wie Untersuchungen im 20. Jahrhundert nahelegten. Oder auch die in der Kaiserlichen Schatzkammer Wien verwahrte "Heilige Lanze": Metallurgische Untersuchungen der Montanuniversität Leoben belegten 1914, dass sie erst im achten Jahrhundert hergestellt worden sein konnte.

In zwei Hälften geteilt

Die Pariser Dornenkrone sicherte sich der französische König Ludwig IX. 1238, zusammen mit einem Teil des "wahren Kreuzes". Er soll eine astronomische Summe bezahlt haben. Der finanziell klamme Balduin II., letzter in Konstantinopel amtierender Kaiser des Lateinischen Reichs, hatte sie in Venedig für 13.134 Goldstücke versetzt. Während der Französischen Revolution wurde sie im Vatikan verwahrt und dort in zwei Teile getrennt. Die eine Hälfte verblieb in Rom, die andere kehrte nach Paris zurück.

Für Könige und Kaiser waren solche Reliquienschätze wichtige Trophäen, die eine göttliche Ableitung ihres Herrschertums legitimierten und ihre Unbesiegbarkeit untermauerten. Götzen der Macht, wenn man so will, die der Kirche von Nutzen waren: Denn sie lockten Schäflein, bestärkten deren Glauben und spendeten Trost in dunklen Stunden.

Die Frage nach der Authentizität solcher Relikte hatte keine Bedeutung, der zugehörige Kult ist indes bis heute von Belang. Dass aus dem Schutt von Notre-Dame auch jener verloren geglaubte Hahn mit Fragmenten der Heiligen Genoveva und Dionysius, der die Spitze des eingestürzten Turms zierte, nahezu unbeschadet geborgen werden konnte, lässt manche an ein Wunder glauben.

Am Ende gilt wohl, was der byzantinische Beamte Niketas in Umberto Ecos Roman Baudolino zum Thema Reliquien zu sagen hat: "Es ist der Glaube, der sie echt macht, nicht sie den Glauben." (Olga Kronsteiner, 20.4.2019)