223 Akten in 43 Sitzungen. Die Beschuldigten: Spieler, Funktionäre, Vereine. Langweilig war dem Senat 1 der Bundesliga, vulgo Strafsenat, nicht in der Saison 2017/18. Montags bzw. nach englischen Runden donnerstags tagt er. Seine bekanntesten Aufgaben: Er bestimmt die Dauer von Rotsperren und Vereinstrafen nach Verstoß gegen Sicherheitsbestimmungen. Stichwort Wiener Derby.

Das ehrenamtliche Gremium wird von der Bundesliga-Hauptversammlung gewählt und besteht aus acht Juristen, davon eine Frau. Gemeinsam müssen sie die Vorschriften aus der Rechtspflegeordnung des Fußballbundes (ÖFB) anwenden. Vorsitz-Stellvertreter Norbert Wess sagt dem STANDARD. "Wir sind aber kein Strafgericht." Er muss es wissen, kennt er dieses doch als Rechtsanwalt bestens, Wess vertritt zum Beispiel Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser im Buwog-Prozess.

Schiedsrichter wie Harald Lechner sorgen dafür, dass der Strafsenat Arbeit bekommt.
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Ipoua vs Ogris

Beim Senat 1 gilt wie für einen Schiedsrichter: je unauffälliger, desto besser. Denn muss er eingreifen, ist etwas passiert, eine rote Karte zum Beispiel. Der Spielraum reicht je nach Vergehen von ein bis 72 Spielen Sperre. Die Spieler hätten ein Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, so Wess. Persönlich oder manchmal auch per Videoschaltung. Einsicht wirkt strafmildernd, kommt aber nicht immer.

Der langjährige Vorsitzende Manfred Luczensky erinnert an ein Wiener Derby 1997. Der Austrianer Andreas Ogris ging auf den Rapidler Sammy Ipoua los. Beide Heißsporne flogen vom Platz. Der Strafsenat fragte Ogris, was das solle. Der Austrianer antwortete: "Ich wollte mich versöhnen."

"Teil des Produkts Bundesliga"

Andere Derbys endeten wegen zahlreicher Fanverstöße weniger heiter. Immerhin muss der Senat 1 auch Sicherheitsverstöße in den Stadien ahnden. Wess stellt voran: "Wir sehen uns als Teil des Produkts Bundesliga und nicht als Gegenpol zu den Vereinen." Geldstrafen landen nicht direkt bei der Bundesliga, sondern in deren Sicherheitstopf. Die Vereine können darauf zweckgebunden zugreifen, etwa mit Kameras in die Sicherheit vor Ort investieren.

Nicht zweckdienlich ist für Luczensky, jede Entscheidung zu kommentieren: "Geldstrafen sind einem Teil der Öffentlichkeit immer zu viel, einem anderen zu wenig. Zudem sind immer viele Emotionen im Spiel. Man kann's nie jedem recht machen." Der Strafsenat steht zu seinen Entscheidungen. Das liegt auch an der Art der Urteilsfindung: Ab drei anwesenden Mitgliedern ist das Gremium beschlussfähig, meist sind vier bis fünf anwesend. "Und dann wird so lange diskutiert, bis jeder mit dem Urteil leben kann", sagt Luczensky über das freiwillige Prinzip Einstimmigkeit.

Manfred Luczensky: "Es sind Emotionen im Spiel."
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Heikle Kollektivstrafen

Kollektivstrafen sind trotzdem heikel. Sie betreffen nicht mehr einzelne Anhänger, sondern mehrere. So kassierte Rapid vor rund einem Jahr für Derby-Vorkommnisse eine Teilsektorsperre für ein Heimspiel. Dieses letzte Mittel ist für Wess dann Thema, "wenn man das Gefühl hat, eine ganze Gruppierung von Fans in einem Sektor ist in Bewegung und auch dementsprechend organisiert".

Fanvorfälle dürfe man jedoch nicht mit dem staatlichen Strafrecht vergleichen: "Wenn jemand sechsmal einer alten Frau die Handtasche geraubt hat, kommt er beim ersten Mal ohne Strafverfahren davon (etwa gemeinnützige Arbeit), beim sechsten Mal bekommt er aufgrund der Vorstrafen eine unbedingte Freiheitsstrafe", sagt Wess. Diesem Räuber müsse man persönlich vorwerfen, dass er nichts gelernt hat.

Im Fußball existiere eine Individualschuld jedoch nur zum Teil, da die Vereine als Veranstalter einerseits ein Organisationsverschulden trifft und andererseits diese für das Verhalten der Fans verantwortlich gemacht werden können. "Ein Riesenunterschied" für Wess. Luczensky: "Es werden daher nicht immer alle Vorstrafen eines Vereins herangezogen, weil dies zu unverhältnismäßig hohen Strafen führen würde". Das würde die Vereine wirtschaftlich umbringen, sagt Wess. "Und das macht sportpolitisch keinen Sinn, weil am Ende des Tages das Produkt Bundesliga funktionieren muss, es ein Miteinander und kein Gegeneinander sein soll. Der Dialog mit Fans ist zielführender als exorbitante Sanktionierungen."

Norbert Wess: "Das Produkt Liga muss funktionieren."
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Wess: "Wir können die Liga nicht allein durch Strafen verbessern"

Bei mehreren Delikten erlaubt der Strafrahmen unter anderem bis zu 150.000 Euro Geldstrafe. Die Bundesligisten – einzig Rapid stimmte dagegen – haben im Herbst beschlossen, dass nach schweren Vergehen zukünftig auch Punktabzüge verhängt werden können. Ein ÖFB-Ausschuss muss dies noch absegnen. Wess sieht erweiterte Optionen nicht nachteilig. Das neue Sanktionskonzept motiviere die Klubs zur Ausforschung der Täter, weil man damit die Geldstrafe reduzieren könne. "Bisher waren das oft nur Lippenbekenntnisse", sagt Luczensky.

Der Trend gehe in die richtige Richtung. In Deutschland ist mittlerweile ausjudiziert, dass sich Klubs die Geldstrafen von den verursachenden Fans zurückholen können. Diese Rechtslage sei mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Österreich gegeben.

Und wie sieht der Strafsenat die Zukunft? Wess: "Wir werden die Liga nicht allein durch Strafen verbessern können. Unser Teil ist zu sagen: Jetzt war's zu viel, jetzt muss es Konsequenzen geben." Luczensky: "Vorfälle gab's immer und wird's immer geben". Auch manche humorvolle: Unlängst hat sich ein Bundesliga-Trainer vor dem Senat 1 verantwortet: "Sehr geehrte Herren, so korrekt, wie der Schiedsrichter das Spiel geleitet hat, so korrekt ist auch seine schriftliche Anzeige verfasst." (Andreas Gstaltmeyr, 22.4.2019)