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Der Viel- und Schnellschreiber Georges Simenon 1963 beim Schärfen seines Werkzeugs

Foto: Roger Viollet / picturedesk.com

Der 23. April ist in der Literaturgeschichte kein Tag wie jeder andere. Genau 403 Jahre ist es her, dass in Madrid beziehungsweise in Stratford-upon-Avon, England, zwei Autoren starben, deren Werke noch heute gelesen werden. Der eine, der seltsam rätselhafte William Shakespeare, dessen Stücke in verschiedenen Emotionslagen die Untiefen der menschlichen Seele ausloten, ist ein literarischer Superstar geblieben. Der andere, Miguel de Cervantes, hat mit seinem Don Quijote einen Roman vorgelegt, der noch heute jedem als Blaupause dienen kann, der es darauf anlegt, als mehr oder weniger traurige Gestalt gegen das Unritterliche in der Welt zu kämpfen.

Die Wirkungsgeschichte der beiden Autoren ist gewaltig, es sollte dann allerdings ein paar Jahrhunderte dauern, bis die Unesco in Andenken an die zwei Literaturgiganten 1995 den Welttag des Buches ausrief. Sie tat es auf Antrag des spanischen Staates, wo an diesem Tag zur Ehre des heiligen Georg in Barcelona seit vielen Jahrzehnten Bücher verschenkt und Lesefeste organisiert werden. Weiters ist der 23. April auch der Tag der Urheberrechte, um deren Novellierung im EU-Parlament in den vergangenen Monaten so heftig gestritten wurde, vor allem aber ist es auch der Tag des Lesens und seiner ungebrochenen Faszination.

Ins Lesen versunken

Immerhin war schon Don Quijote einer, der sich so tief in seine Bücher versenkte, "dass ihm die Nächte vom Zwielicht bis zum Zwielicht (...) über dem Lesen hingingen." Und natürlich glaubt Don Quijote wie jeder richtige Leser alles, was er in den Büchern über Verzauberungen, Waffengänge, Herausforderungen "süßes Gekose", Seestürme, Liebschaften und andere Narreteien las.

Für das richtige Leben ist der arme Don damit verloren, aber lebt er deshalb im Falschen? Das ist eine der Fragen, die das Buch bis heute aufwirft. Es wird im Roman übrigens nichts nützen, dass der Pfarrer und die Haushälterin die Bibliothek des Ritters, der keiner ist, verbrennen, denn längst hat er die gelesenen Bücher auf der Festplatte seines Herzens gespeichert.

Im Gegensatz zu Cervantes belegt Shakespeare heute im "Index Translationum", in dem die Unesco seit 1946 die meistübersetzten Autoren erfasst, einen der vorderen Plätze. Konkret den dritten, nach Agatha Christie und Jules Verne. Nimmt man die kumulierten Absatzzahlen, liegt Shakespeare mit mehr als zwei Milliarden verkauften Exemplaren vor der englischen Krimiautorin (rund zwei Milliarden), es folgen Harold Robbins (750 Millionen) – und mit 500 Millionen verkauften Büchern Georges Simenon, dessen Werk gerade in einer Neuedition und teilweise in Neuübersetzung im Kampa-Verlag und bei Hoffmann und Campe erscheint.

Kein Literaturfett

Simenon, der vor 90 Jahren seinen ersten Kriminalroman um Kommissar Maigret schrieb, gilt bis heute als eines der erstaunlichsten Leserphänomene des 20. Jahrhunderts. So konstatiert Walter Benjamin 1936 in einem Brief, dass er "jeden neuen Roman von Simenon" lese. Hemingway äußerte sich ähnlich, und Jean Améry bemerkte nach einem Besuch, das "Phänomen" werde zwar im Gesprächspartner Simenon nicht sichtbar. Immerhin aber strahle der Autor die gleiche Aufrichtigkeit aus wie seine Bücher, die "in einem nackten Stil geschrieben" seien – ohne ein "Gramm Literaturfett".

Dieses Fett war es wohl auch, das Paul Celan vermisste, der zwei Maigrets übersetzte. Mit geringer Lust. Obwohl es also auch Gegenstimmen gibt und gerade in den ersten Maigret-Bänden Juden stereotypisiert dargestellt werden, gehörte André Gide ebenso zur Simenon-Fangemeinde wie Fellini und Truffaut.

214 Bücher hat das 1903 in Liège geborene "belgische Weltwunder" geschrieben, darunter 75 Maigrets. Nachdem er 1972 die Berufsbezeichnung "Romancier" aus dem Pass streichen und durch den Eintrag "ohne Beruf" ersetzen ließ, diktierte der notorische Frauenheld bis zu seinem Tod 1989 noch eine "psychopathisch große Anzahl autobiografischer Texte" (Julian Barnes) auf Band.

Prinzip der Serie

Viele Bücher schrieb Simenon in weniger als einer Woche. Trotzdem sind seine "romans durs", die er neben den Maigrets schrieb, in den französischen Literaturolymp "Bibliothèque de la Pléiade" aufgenommen worden. Was aber genau die Faszination dieses Autors ausmacht, der als Journalist und Groschenromanschreiber begann, ist schwer zu sagen. Nicht einmal Simenon selbst, ein literarischer Überwältigungsfachmann erster Güte, der auch ein Reklamegenie war, wusste darauf eine Antwort.

Fakt ist, dass er als einer der Ersten das Potenzial des Seriellen bediente, das heute in TV-Serien Erfolge feiert. Und zwar konsequenter als andere Krimischreiber. Simenons Maigrets sind in zwei, drei Stunden zu lesen und wenig komplex. Auf den ersten Blick jedenfalls. Immer zeigen sie aber gesellschaftliche Strukturen hinter den präzis geschilderten sozialen Milieus, in denen der Autor einen Kommissar ermitteln lässt, der nicht urteilen, sondern verstehen will. Letzteres, weil er viel über das Leben weiß und noch mehr darüber lernen möchte.

Sympathiefaktor

Weiters hat Simenon mit Maigret, diesem Beamten mit seiner ins Gesicht genieteten Pfeife, eine Figur mit hohem Gewöhnlichkeits- und Sympathiefaktor geschaffen. Sein Schöpfer war allerdings, wie die heutigen Erfolgsserien, schlau genug, das Wesen seiner Hauptfigur zwar von Buch zu Buch transparenter werden zu lassen, vollumfänglich enthüllt wird es jedoch nie.

In seinen besten Passagen löst Simenon indes einen Anspruch ein, den er am Anfang seiner Karriere formulierte. Nämlich der Wahrheit des ausgesetzten Menschen nahezukommen – und mit seinen Büchern Anfänge zu schaffen, die ein Versprechen auf ein neues, ein anderes Leben bergen. Das hätte Don Quijote gefallen. (Stefan Gmünder, 23.4.2019)