Wir stehen um 4.30 Uhr in der Früh auf, steigen in ein Taxi, fahren zum Bahnhof, steigen aus, frühstücken, suchen Obst, finden Obst, steigen in den Zug und fahren mit durchschnittlich 244 km/h Richtung Chengdu. Auf dieser Siebeneinhalb-Stunden-Fahrt unterhalten wir uns über die "leftover women", Frauen in China, die mit Ende 20 schon als alte Jungfern gelten, weil sie es zumeist bevorzugt haben, einen akademischen Werdegang zu genießen und sich ihrem Berufsleben widmen, anstatt zu heiraten und Kinder zu bekommen.

Das Absurde daran ist eigentlich die Vorgeschichte dazu: Durch die Einführung der Einkindpolitik begann nämlich für viele Eltern ein Umdenken – zuvor lag die Zukunft der Familie stets in den Händen des männlichen Nachfolgers, mit dem neuen Gesetz musste man sich gegebenenfalls auch mit seiner Tochter "zufriedengeben". Zumindest in den Großstädten bemühten sich die Eltern, ihrer Tochter nichtsdestotrotz die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen, was ja durchaus als etwas sehr Positives zu betrachten ist und eine Überwindung alter Denkmuster nahelegt. Allerdings hat in China die Verehelichung nach wie vor einen sehr hohen Stellenwert. Bleibt das Kind unverheiratet, bedeutet dies oft Schande für die Familie. Deswegen findet man häufig genau dieselben Eltern, die ihre Tochter zuvor gefördert haben, auf Heiratsmärkten, wo sie ihren Nachwuchs auf Geschlecht, Alter, Größe, Gewicht, Ausbildung und Einkommen reduzieren, um einen potenziellen Partner zu finden.

Blick aus dem Zug: Häuser.
Foto: Jimmy Brainless
Blick aus dem Zug: Tunnel.
Foto: Jimmy Brainless

Einladung mit Angst

Aber nicht nur das beschäftigt uns: Wir haben vor einigen Tagen von einem (außerordentlichen) Professor der Xinan-Jiaotong-Universität eine E-Mail bekommen, dass wir herzlichst eingeladen seien, bei einem Dinner des österreichischen Generalkonsulats teilzunehmen. Der "Präsident des österreichischen Parlaments" werde an diesem Abend ebenfalls anwesend sein.

Da wir diese Einladung vom Generalkonsul zuvor schon bekommen und auch schon zugesagt haben, weil dieses gewisse Detail gefehlt hat, zittern wir. Wie sollen wir mit dem Präsidenten in einem Raum sitzen und auch nur einen einzigen Bissen herunterbekommen, wenn wir wissen, dass der Präsident sich am liebsten gleich über unsere Handys stürzen würde, um unsere gesamte Onlinekommunikation als Nachtisch zu verschlingen?

Ein Präsident und ein Prolohemd

Vom Bahnhof in Chengdu holt uns ein – vermutlich dazu verdonnerter – Student der Xinan-Jiaotong-Universität ab und bringt uns ins Hotel. Chengdu wirkt auf den ersten Blick lockerer, grüner und gepflegter im Vergleich zu Peking, die Menschen verhalten sich uns gegenüber herzlicher, Pflanzen ranken sich an den Betonpfeilern der Straße empor, es sind viele Menschen mit dem Rad oder elektrischem Moped unterwegs, und es zieht nicht ständig jemand Schleim hoch, um seinen Auswurf lautstark irgendwohin zu spucken. Bang spazieren wir zum "Stammtisch", dem Lokal, wo das Dinner des österreichischen Generalkonsulats in Chengdu stattfindet.

Das Lokal "Stammtisch" in Chengdu.
Foto: Jimmy Brainless

"Ich schüttle ihm die Hand sicher nicht." – "Auf einem Foto will ich mit ihm fix auch nicht sein." – "Sollen wir noch schnell ein Lied schreiben?"

Wir trinken vorm Lokal noch etwas, alles hat Verspätung. Die Delegation kommt nämlich teils aus Peking, der Flieger ist unpünktlich, es gibt da schon wieder einen Zwischenfall, eine Düse ist mit Pollen verstopft und der Techniker ist Allergiker.

Wir plaudern mit dem Lokalbesitzer. Der einstige Berliner erzählt, dass sie für das Dinner des österreichischen Generalkonsulats die gesamte Speisekarte umbenannt haben, statt Schweinshaxe gibt es Stelze, statt Rauchfleisch Geselchtes, statt Hoheitsunsinn Kaiserschmarrn.

Langsam treffen schließlich alle geladenen Menschen ein. Ein sehr sympathischer Präsident betritt den Raum. Und er ist tatsächlich sehr sympathisch, weil es sich bei ihm nicht wie erwartet um den Nationalratspräsidenten handelt, sondern um den Wiener Landtagspräsidenten. Uff.

Wir lernen den Professor kennen, der dieses Missverständnis in die Welt gesetzt hat, und seinen Mitarbeiter im grünen Prolohemd (ja ja ja, das Wortspiel hat sicher irgendwer schon mal gemacht), ein ehemaliger Student aus Karlsruhe, der bei jedem Satz seine Augen so stark verdreht, dass man das Gefühl hat, er meint alles ironisch. In Karlsruhe studierte er Maschinenbau. Aber Karlsruhe sei fad. Da kann man keinen Spaß haben. Zu wenig Frauen.

Ich frage: "Studieren denn keine Frauen Maschinenbau?" – "Doch, schon, aber weißt eh, die schaun so aus, mit denen willst nichts haben."

Er wirkt so, als würde er von uns ein High Five erwarten. Elias meint, er ist zugekokst. Ich denke, er ist ein "leftover man" und sollte es auch für immer bleiben.

Jimmy Brainless und Elias Hirschl beim Dinner des österreichischen Generalkonsulats in Chengdu.
Foto: Jimmy Brainless

Ansonsten bleibt der Abend jedenfalls recht harmlos und angenehm, wir dürfen als "die Künstler" herhalten und allen Interessierten mehrfach von unserer Tour erzählen, wo und wann und wieso und wozu wir überhaupt unterwegs sind. Anschließend wird uns so oft empfohlen, dass wir die Pandas hier in Chengdu anschauen sollen, dass wir das Gefühl haben, wir hätten sie bereits gesehen.

Zeitreisen, um Liebesprobleme zu lösen

Am nächsten Tag sind wir an der Xinan-Jiaotong-Universität, um einen Workshop zu halten. Zumindest war davon im E-Mail-Verkehr als auch im persönlichen Gespräch immer die Rede. Als wir aber bei der Universität auftauchen und unseren Workshop einleiten wollen, tut der Professor, der eben auch die Verwechslung der Präsidenten ins Leben gerufen hat, sehr überrascht: Er habe mit einem Auftritt gerechnet.

Nachdem er etwas raunzig, gar mürrisch wirkt und es für uns tatsächlich gar kein Problem ist, einfach unser Programm zu präsentieren, organisiert ein Student für mich eine Gitarre – und ab geht die Post.

In der Pause erzählen uns Studentinnen, dass es in China bis vor ein paar Jahren eine Phase gab, in der Zeitreise-Liebesromane sehr beliebt waren, deren Handlung grundsätzlich immer daraus besteht, dass eine gestresste, einsame Frau aus der Gegenwart durch übernatürliche Phänomene in die Vergangenheit geworfen wird und sich dort in eine sehr reiche und berühmte Person der jeweiligen Epoche verliebt.

Vielleicht sollte sich die chinesische Regierung davon inspirieren lassen und eine Initiative starten, in der den "leftover men" angeboten wird, Frauen aus vergangenen Dynastien zu heiraten. So könnte man den gegenwärtigen, durch die Einkindpolitik entstandenen Frauenmangel kompensieren und hätte gleichzeitig ein neues Mittel, einer Übervölkerung entgegenzuwirken, indem man den Überschuss an Männern einfach in die Vergangenheit schickt. Bevorzugt die grünen Polohemden-Tragenden.

China ist seltsam

Beim Verlassen der Uni bemerken wir eine wunderschöne Allee voller Ginkgobäume. Verwundert stellen wir fest, dass alle Ginkgobäume eine Art Infusion bekommen. Der Professor erklärt uns, dass seien Nährstoffe, damit die Bäume größer wachsen und keine Pest bekommen. Wir nicken. Okay. China hat wirklich eine seltsame Beziehung zu seinen Bäumen.

Ginkgobauminfusionen am Gelände der Xinan-Jiaotong-Universität.
Foto: Jimmy Brainless

Wir werden netterweise noch zum Essen eingeladen, es gibt klassischen Hot Pot mit viel Chili, die Suppe ist dunkelrot und brodelt angsteinflößend, schmeckt aber sehr gut. Vor allem der Szechuanpfeffer ist ein Erlebnis für sich: Es fühlt sich an, als würden die Nerven im Mund vollkommen betäubt werden, ähnlich wie wenn einem der Arm einschläft, nur dass man nicht weiß, was man im Mund bewegen soll, damit dieses Kribbeln wieder fortgeht.

Rindfleisch mit Chili, Zutat für den Hot Pot.
Foto: Jimmy Brainless

Wir packen wieder die Koffer. Am nächsten Tag geht es mit dem Zug nach Schanghai. Zwölfeinhalb Stunden. Was uns wohl diesmal beschäftigen wird? (Jimmy Brainless, 24.4.2019)