Rechter Schulterschluss vor der EU-Wahl: Olli Kotro (Finnenpartei), Jörg Meuthen (AfD), Matteo Salvini (Lega), Anders Primdahl Vistisen (dänische Volkspartei).

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Immer schneller dreht sich die Spirale der Illiberalität und Demokratiebeschädigung, beobachtet der Sprachphilosoph und Politikwissenschafter Paul Sailer-Wlasits. Im Gastkommentar fragt er: Wo bleiben der europäische Schulterschluss und das politische Aufstehen der Linken?

Bei vielen der europäischen Rechten ist bereits Hopfen und Malz verloren. Sie sind uneinsichtig, unbelehrbar und unverbesserlich: uneinsichtig, was ihre permanenten "Einzelfälle" an rassistischen, xenophoben und antisemitischen beziehungsweise antiislamischen Äußerungen betrifft. Unbelehrbar hinsichtlich dessen, was in der negativen Kulturgeschichte des europäischen Rassismus seit einem halben Jahrtausend geschah und weiter geschieht. Und sie sind unverbesserlich, was ihr moralisches "Kein-Problem-mit-Rechtsextremen-Haben" betrifft.

Sprachliche Rotlichtverstöße

Diese negative Trias könnte bei den kommenden Europawahlen schlagend werden. Schlagend im Sinne von abstrafen und vergelten. Ein Akt der Bestrafung, vollzogen von einem großen Teil jener Minderheit, die überhaupt noch an der EU-Wahl teilnimmt. Dass es nunmehr auch in Österreich wieder mit rechten Dingen zugeht, dass die Vorrangregel für rechts penibel eingehalten wird und sprachlich mittlerweile ohne Probleme bei Rot über die Kreuzung gefahren werden kann, freut das ungarische, polnische und italienische Politik-Establishment.

Europaweit wuchern unter dem verbalen Deckmantel des Patriotismus lupenreiner Fremdenhass und hinter der Fassade des Christentums antisemitische und islamfeindliche Reflexe. Schreckliche Anschläge, wie zuletzt jener am Ostersonntag, sind Wasser auf die Mühlen der simplifizierenden rechten Populisten.

Checks und Balances: Fehlanzeige

Das ist doppelt tragisch, da zum Ende des 20. Jahrhunderts die Hoffnung bestand, dass diese kulturelle Dumpfheit im dritten Jahrtausend zivilisationsgeschichtlich überwunden sein würde. Doch das Gegenteil geschieht. Der Politverfall beschleunigt sich sogar, von obsessiv lügenden Präsidenten bis hin zu immer illiberaler werdenden Regierungen im Herzen Europas.

Wo bleibt das demokratische Gegensteuern, wo das zivilgesellschaftliche Gegengewicht? Wo der europäische Schulterschluss und das politische Aufstehen der Linken? Solange der Zusammenschluss nur zarte Knospen zutage fördert, wie kürzlich beim Parteikongress der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) in Madrid, geht der rechte Hexensabbat weiter. Immer schneller dreht sich die Spirale der Illiberalität und Demokratiebeschädigung bis hin zum hemmungslosen Aushöhlen gewachsener sozialpartnerschaftlicher Strukturen.

"G'sunde Watsch'n" für Brüssel?

Dass die Rechten bei den kommenden Europawahlen fulminante Zugewinne in ihrer Zielgruppe der Unverbesserlichen, Unbelehrbaren und Uneinsichtigen verbuchen werden, bezweifelt kaum mehr jemand. Auch das österreichische Wahlergebnis wird diesen Trend vermutlich bestätigen. Doch die eigentliche Gefahr, die sich auf leisen Sohlen in diesen EU-Wahlkampf eingeschlichen hat, könnte in der Gruppe der sogenannten gemäßigten Bürgerinnen und Bürger Europas aufbrechen. Denn nur wenige in Europa, so demokratisch und europäisch sie auch gesinnt sein mögen, sind völlig frei von unterschwelliger Wut auf die europäischen Institutionen und deren handelnde Personen.

Über die Jahre wurden Millionen Europäer bereits zu Politopfern des grassierenden Anti-EU-Populismus. Ähnlich wie im Falle des Brexit-Votums könnten viele aufgrund der subjektiv empfundenen, immer kleiner werdenden Handlungsspielräume zu einem Gegenschlag ausholen. Zu einer europaweiten "g'sunden Watsch'n" für Brüssel. Doch falls ein solcher Denkzettel deutlicher ausfällt als erwartet, erfahren die Rechten und illiberalen Kräfte in der EU jene Stärkung, gegen die sich selbst der neue Tonfall im Deutschen Bundestag wie kultiviertes Kaffeehausgeplauder ausnimmt.

Dass britische Abgeordnete nach den Wahlen die Möglichkeit erhalten könnten, wesentliche politische Prozesse in der EU auf legale Weise zu erschweren oder teilweise sogar zu blockieren, ist nur eine weitere gefährliche Politgroteske.

Digitales Proletariat

Wenn die verbliebenen Sozialdemokraten und Grünen Europas nicht schleunigst damit beginnen, dem kommenden digitalen Proletariat Antworten zu geben, "safe havens" und Schutzräume zu errichten, werden sie ihre historische Rolle verspielt haben. Dann wird das 20. Jahrhundert in der politischen Geschichte einst nur eine Episode des sozialistischen Experiments gewesen sein, eine Versuchsreihe linker Gesellschaftsmodelle.

Die zukünftig gefährdeten Millionen werden sich vom Prekariat der ersten Industriellen Revolution fundamental unterscheiden, doch sie werden ebenso schutzbedürftig sein wie ihre Sinus-Milieu-Vorläufer auf dem tiefsten Punkt der gesamtgesellschaftlichen Talsohle. Das bereits im Entstehen begriffene neue Proletariat muss dort abgeholt werden, wo es sich heute befindet, nicht dort, wo sich einst befand.

Ankündigungspolitik beenden

In einem ersten Schritt wären das Ende der Ankündigungspolitik und stattdessen der Beginn einer glaubwürdigen politischen Hinwendung umzusetzen. Ganz langsam könnte sich dann der zivilgesellschaftliche Widerstand regen, danach formieren, sich erheben und zu jener gesellschaftlichen Gegenkraft werden, die den Antidemokraten die Stirn bietet, um deren nichtigen Populismus europaweit in die Schranken zu weisen. (Paul Sailer-Wlasits, 24.4.2019)