Illegaler Grenzverkehr auf der "trocha" an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze.

Kreutzmann

Helferin Graciela Sánchez' bietet fünf Familien ein Obdach.

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Mit ihrer ruhigen herzlichen Art strahlt Graciela Sánchez eine natürliche Autorität aus. Ihre Tür steht jedem offen, das wissen die Bewohner von Las Delicias. "Wenn es klopft, rufe ich immer 'Herein', ohne zu schauen, wer da ist", sagt die 39-Jährige lachend. So kam auch im April vergangenen Jahres eine Familie venezolanischer Flüchtlinge in ihr Haus. Nachbarn hatten sie zu der hilfsbereiten Graciela geschickt. "Ich habe im Fernsehen gesehen, wie Menschen weinen, wie sie sich durch den Grenzfluss geschleppt haben", sagt die zierliche Frau, die ihre langen Haare zu einem lockeren Zopf gebunden hat. "Natürlich habe ich sie hereingebeten."

Ihr Haus ist einfach, vieles mutet provisorisch an, als Toilette dient ein Verschlag im Hof. Denn Graciela ist selbst ein Flüchtling – eine von 7,7 Millionen kolumbianischen Binnenflüchtlingen, die während des mehr als 50 Jahre dauernden Bürgerkriegs (1964 bis 2016) aus ihren Dörfern vertrieben wurden.

Die Gemeinde Las Delicias befindet sich rund 20 Kilometer von der Grenzstadt Cúcuta entfernt, über die die meisten Venezolaner nach Kolumbien kommen. Mehr als 3,4 Millionen Venezolaner sind bereits wegen der schweren Wirtschafts- und politischen Krise aus ihrem Land geflüchtet. Bis Ende 2019 rechnet das UN-Flüchtlingswerk UNHCR mit 5,3 Millionen Flüchtlingen. Es handelt sich schon jetzt um die schwerste Flüchtlingskrise in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas.

"Graciela ist ein Engel"

"Graciela ist ein Engel, wir sind ihr unendlich dankbar", sagt Luíz Brito, der zusammen mit anderen venezolanischen Flüchtlingen eine provisorische Hütte auf dem Grundstück von Graciela Sánchez errichtet hat. Insgesamt leben jetzt fünf Familien mit 18 Personen bei ihr. Weil immer mehr venezolanische Flüchtlinge ankamen, hat Graciela Nachbarn überzeugt, es ihr gleichzutun. Heute ist Las Delicias ein Ort der Solidarität.

Graciela stammt aus einem Dorf im äußersten Norden des Bundesstaates Nord-Santander, einem Kampfgebiet der Farc-Guerilla. Dort hatte sie in ihrem Haus einen Lebensmittelladen. Eines Tages seien Farc-Mitglieder gekommen und hätten ihr vorgeworfen, auch an Paramilitärs und Soldaten zu verkaufen, sagt sie. "Nachts hing ein Zettel an der Tür, dass ich 15 Tage Zeit habe, mein Dorf zu verlassen – ansonsten sei ich tot." Das war im November 2007.

Mit ihren drei Kindern und Nachbarsfamilien flieht sie südwärts. In Las Delicias finden sie Land und lassen sich mit ihren wenigen Habseligkeiten nieder. "Es war eine sehr, sehr schwere Zeit", erinnert sie sich. Mit Unterstützung der kolumbianischen Sektion des UNHCR konnten sie das Land für einen solidarischen Preis kaufen. Sie habe zwar ein neues Zuhause gefunden, die Fluchterfahrung werde sie aber ein Leben lang begleiten, sagt Graciela leise.

Nachdem Kolumbien den venezolanischen Oppositionsführer Juan Guaidó Ende Jänner als Interimspräsidenten anerkannt hatte, ließ Venezuelas Machthaber Nicolás Maduro die Grenzen schließen; die Brücke Simón Bolívar nahe Cúcuta ist fast menschenleer. Nach internationalem Druck ließ Venezuela immerhin einen "humanitären Korridor" für Rentner, Schulkinder und medizinische Notfälle offen. Seitdem gibt es einen illegalen Weg, der durch Gebüsch, Sumpf und über einen provisorischen wackligen Pfad aus Steinen durch einen schmalen Fluss in Richtung Kolumbien führt. Der illegale Grenzübergang, die "trocha", verläuft parallel zur geschlossenen Grenzbrücke unter den Augen der venezolanischen Grenzer.

Lange Warteschlangen

Täglich kommen hier mehrere Tausend Menschen nach Cúcuta. In der rund 800.000 Einwohner zählenden Stadt sind schon zehntausende Flüchtlinge gestrandet. Sie ist das Gesicht der Krise in Venezuela geworden. Im Stadtzentrum und in den Parks übernachten Familien – es fehlt an allem. Vor der Essenausgabe der katholischen Kirche bildet sich schon am Morgen eine mehr als hundert Meter lange Schlange. 4000 Mahlzeiten werden hier täglich von Freiwilligen zubereitet. "Eigentlich bräuchten wir 15.000 Mahlzeiten, um allen Bedürftigen zu helfen", sagt der Priester José Davíd Caña Peréz. Schräg gegenüber behandelt das Internationale Rote Kreuz in drei Containern Venezolaner. Bis zu 300 Menschen werden hier täglich betreut.

Jesús González ist mit seiner Frau und der eineinhalbjährigen Tochter Alanis hier – bereits zum zehnten Mal. "Es gibt nichts mehr in Venezuela, überhaupt keine Medikamente. In den Hospitälern arbeiten höchstens noch Studenten", sagte González. Sie haben ihre Tochter hier impfen und untersuchen lassen. "Wir wollen auch weg aus Venezuela, haben aber keine Papiere", sagt er.

Wie es weitergehen soll, wissen die Venezolaner nicht. Aufgrund des Papiermangels werden in dem Land keine Reisepässe mehr gedruckt und kaum noch andere Dokumente ausgestellt. Staaten wie Kolumbien verlangen aber von den Venezolanern einen Pass, der bei der Einreise abgestempelt werden muss.

Nach Venezuela, um zu sterben

Mit mehreren Packungen Schmerztabletten kommt die 51-jährige Sandra Rodríguez aus dem Behandlungszimmer. Sie hat Gebärmutterkrebs im fortgeschrittenen Stadium. In Kolumbien kann sie nicht operiert werden, denn sie hat keinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen. Sie muss zurück nach Venezuela – "zum Sterben", wie sie sagt.

Die kolumbianische Regierung propagiert offiziell eine Willkommenskultur. Doch die Hilfsbereitschaft schlägt mitunter auch in Rassismus gegen Venezolaner um. Laut einer UNHCR-Umfrage gaben sechs von zehn Venezolanern an, dass sie in Kolumbien Diskriminierung erfahren hätten. Kolumbien beherbergt 1,17 Millionen venezolanische Flüchtlinge, rund 60 Prozent halten sich irregulär im Land auf und können offiziell nicht arbeiten. Wegen der schlechten Arbeitsaussichten reisen immer mehr Flüchtlinge weiter nach Ecuador, Peru und Chile. Peru und Chile erlauben Flüchtlingen, die einen Asylantrag gestellt haben, zu arbeiten. Die humanitäre Krise in Venezuela hat inzwischen ganz Südamerika erfasst. (Susann Kreutzmann aus Cúcuta, 24.4.2019)