Am 21. April fand in der Ukraine die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen statt, mit dem Ergebnis, dass der Newcomer Wladimir Selenski gegen den seit Juni 2014 regierenden Petro Poroschenko gewann. Dieser Sieg war nicht überraschend, Umfragen hatten bereits darauf hingedeutet. Überraschend aber war, dass Selenski 73 Prozent der Stimmen erhielt – ein Maß an Unterstützung, dessen sich gemeinhin nur autoritäre Politiker wie Lukaschenka oder Putin erfreuen.

Frischer Wind

Wie kann man dieses Wahlergebnis erklären? Ein Faktor ist sicher, dass die Ukrainer müde sind – müde des Kriegs im Donbass, müde aufgrund nur halb umgesetzter Reformen. Bei Reformen spürt man die Erfolge nur langsam und viel weniger als die negativen Nebenwirkungen wie zum Beispiel steigende Energiepreise, die jeden Haushalt treffen. Vor allem aber sind die Bürger der alten Gesichter und Praktiken in der Politik müde. Korruption ist nach wie vor ein Problem, bis hinauf in das Umfeld des Präsidenten.

Dass Poroschenko ein zweites Mal gewählt werden würde, war daher keineswegs sicher. Allerdings betrachtete man anfangs Julija Timoschenko als seine Hauptrivalin. Selenski war schon vorher in den Medien ziemlich präsent, aber eben nur als TV-Star. Seine politischen Ambitionen hat er erst spät, zu Silvester 2018, angekündigt. Gerüchte, dass er für das Amt des Präsidenten kandidieren würde, gab es schon früher: Nach einer Umfrage im November lag er mit elf Prozent zwischen Poroschenko und der Favoritin Timoschenko. Gleichwohl war vor dem ersten Wahlgang nicht absehbar, wer in die Endrunde kommen würden.  

Keine vierte Mauer mehr: Als Präsident muss Selenski nun vor dem Vorhang agieren.
Foto: APA/AFP/GENYA SAVILOV

Ein weiterer Faktor für den überwältigende Erfolg Selenskis ist wohl, dass er politisch ein unbeschriebenes Blatt ist und so als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Wählergruppen dienen konnte. Man verknüpft mit ihm ganz verschiedene Erwartungen, wie zum Beispiel die Senkung der Energiepreise, die Aufklärung der schlimmsten Korruptionsskandale und die Bestrafung korrupter Politiker. Es hat sicher auch geholfen, dass Selenski versprochen hat, die politische Immunität von Parlamentsabgeordneten, Richtern und des Präsidenten abzuschaffen. Gleichzeitig verbinden viele Wähler aus der Ost- und Süd-Ukraine mit Selenski– einem Russophonen aus Dnipro – die Hoffnung, dass er die Beziehungen zu Russland verbessert und in Sachen Sprachpolitik und Staatspatriotismus weniger eifrig sein wird als sein Vorgänger.

Vieles ist ungewiss

Seine politische Jungfräulichkeit hat Selenski geschickt genutzt, indem er sich bis zum letzten Moment vor Journalisten bedeckt hielt, den Wahlkampf über Youtube führte und seine politischen Aussagen absichtlich vage hielt, um keine seiner Wählergruppen zu verprellen.

Doch nun, nach der Wahl, wird unvermeidlich der Moment der Wahrheit kommen, wo der neue Präsident in die reale Welt tritt. Er wird nun Entscheidungen treffen müssen und damit einen Teil seiner Wähler enttäuschen. Wir wissen derzeit auch wenig darüber, wie Selenskis Team aussehen wird. Als Anfänger ist er zudem seiner Umgebung viel eher ausgeliefert als ein erfahrener Politiker. Auf wen wird er sich verlassen können? Und nicht zuletzt: Viele sagen, Selenski sei eine Kreatur von Ihor Kolomojski, dem Oligarchen aus Dnipro. Die TV-Show, die Selenski so populär gemacht hat, lief auf Kolomojskis Fernsehsender 1+1. Der Oligarch spielte 2014 eine wichtige Rolle in der pro-ukrainischen Stabilisierung der Region, nutzte die Situation aber gleichzeitig auch für seine wirtschaftlichen Eigeninteressen und die Stärkung seines politischen Einflusses – bis er von Poroschenko kaltgestellt wurde. Viele Kommentatoren befürchten daher eine Revanche von Kolomojski und einen verstärkten Einfluss der Oligarchen in der Politik.

BBC News

Neue Tendenz: moderner Populismus

Im Unterschied zum Populismus, wie ihn die Ukraine vorher kannte und der entweder von Sowjetnostalgie oder ethnischem Nationalismus lebte, zeigen die Wahlen vom 21. April eine neue Tendenz im postsowjetischen Raum. Offensichtlich haben wir es hier mit einer Form von modernem Populismus zu tun, den wir eher aus dem gegenwärtigen europäischen Kontext kennen. So gesehen, erscheint die Ukraine eher als ostmitteleuropäisches denn als postsowjetisches Land.

Selenskis Hauptforderung ist, das System zu brechen: er beschwört die direkte Demokratie als Antwort auf alle Fragen, seine Rhetorik beruht auf der Identifikation mit dem Volk ("Ich bin einer von Euch") und der Absetzung dieses "Wir" gegen Poroschenko und die alten Eliten als "Ihr". All das sind Merkmale des heutigen westlichen Populismus. Zugleich überbieten die ukrainischen Wahlen ihr "Vorbild": Wo sonst wird eine Figur, die in einer TV-Serie einen guten Präsidenten aus dem Volk spielt, dank dieses Images zum wirklichen Präsidenten gewählt? Wo sonst liefern sich die Konkurrenten um das höchste Amt im Staate ihr Showdown in einem Olympiastadion?  

euronews (in English)

Krieg der Anhänger

Derzeit tobt in den ukrainischen sozialen Medien ein Krieg zwischen den treuen Anhängern Poroschenkos, die sich als die "wahren Patrioten" bezeichnen, und jenen, die in Selenski die Chance für einen Neustart sehen und ihre Gegner als arrogant und demokratiefeindlich kritisieren.  Diese aufgeheizte Debatte erinnert an die letzten Präsidentschaftswahlen in den USA, wo die intellektuelle Elite an die Vernunft appellierte und dazu aufrief, Hillary Clinton zu wählen, und dann vom Volk tief enttäuscht war. Ähnlich wie in den USA haben in der Ukraine die meisten bedeutenden Intellektuellen Poroschenko trotz aller Vorbehalte unterstützt. Sie haben angesichts der Spannung mit Russland und des Krieges im Donbass vor den Risiken eines Führungswechsels gewarnt und die Wichtigkeit unterstrichen, den pro-westlichen Kurs beizubehalten. Auch hier waren viele von dem Wahlergebnis enttäuscht und fühlen sich vom Volk, mit dem sie doch gemeinsam auf dem Maidan gestanden hatten, betrogen.

Wahlverlierer Poroschenko.
Foto: APA/AFP/SERGEI SUPINSKY

Ob der ehemalige Präsident weiter in der Politik eine Rolle spielen wird, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall hat Poroschenko – dank einer nach wie vor starken und treuen Anhängerschaft – gute Chancen, im Herbst ins neu gewählte Parlament zu kommen und dort mit seiner neu formierten Partei eine politische Kraft darzustellen. 

Mit der Zeit wird man die Rolle und die Verdienste des nun abtretenden Präsidenten vielleicht gerechter würdigen könne. Wie Serhii Plokhy, der renommierte Ukraine-Historiker aus Harvard, schrieb, wird Poroschenko als wichtiger politischer Führer in die Geschichte eingehen, hat er doch das Steuer in einer Zeit übernommen, als das Staatsschiff auf ein Riff zu lief und unterzugehen drohte. Poroschenko konnte das Unglück abwenden und das Schiff in neue Gewässer steuern. So etwas wird nicht einfach vergessen.

Akzeptanz

Wie immer man die Wahlen sehen mag, sie sind ein wichtiger Schritt weiter im Prozess der Demokratisierung der Ukraine. Obwohl die Kampagne schmutzig war, so waren die Wahlen doch frei und fair. Es gab keine größeren Unregelmäßigkeiten – was im postsowjetischen Raum alles andere als selbstverständlich ist. Und obwohl Selenski jüdischer Abstammung ist, war dies im Wahlkampf kein Thema – was einmal mehr die Legende vom tief verwurzelten ukrainischen Antisemitismus widerlegt. Vielleicht wichtiger noch als das Ergebnis der Wahlen ist die Tatsache, dass es akzeptiert wurde, vom Verlierer und von den Bürgern, und nicht dazu führte, dass radikale Kräfte auf die Straße gingen. Das hätte die ukrainischen politischen Institutionen weiter geschwächt, die Glaubwürdigkeit der Ukraine im Westen weiter untergraben und dem Kreml in die Hände gespielt. (Tatiana Zhurzhenko, 26.4.2019)

Tatiana Zhurzhenko hat eine Gastprofessur für Osteuropastudien am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien inne und forscht zu Nations- und Staatsbildung und Identitäts- und Erinnerungspolitik in der Ukraine und Russland.

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