Bild nicht mehr verfügbar.

Spuren einer nachhaltigen Katastrophe: Durch die Explosion der Ölbohrplattform Deepwater Horizon 2010 gelangten rund 800 Millionen Liter Rohöl ins Meer.

Foto: Picturedesk / EPA / Christopher Berkey

"Zur Wissenschaft gehören natürlich auch Kontroversen", sagt Historiker Renn. "Manche davon werden allerdings auch gezielt geschürt, um den Eindruck zu erwecken, dass wir nicht handeln müssen."

Foto: Corn

Erderwärmung, Artensterben, radioaktiver Müll – wie keine andere Spezies ist der Mensch dazu in der Lage, das Erdsystem zu beeinflussen. Von den Tiefen der Meere bis in die Atmosphäre gibt es kein Plätzchen auf dem Planeten, das nicht von Menschen erkundet, ausgebeutet oder verschmutzt worden ist. Im Jahr 2000 schlug der niederländische Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen den Begriff Anthropozän vor, um die geologischen Auswirkungen des Menschen auf den Planeten zu beschreiben.

Seither diskutieren Geologen, das Anthropozän offiziell als das aktuelle Erdzeitalter einzuführen. Neben den Naturwissenschaftern beschäftigt das Anthropozän auch Geistes- und Sozialwissenschafter, Künstler und Klimaaktivisten. Der Berliner Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn erforscht die Geschichte der Verwobenheit von Mensch und Erde und sucht nach Lösungen, wie möglichst viele ein gutes Leben im Anthropozän führen können.

STANDARD: Worin besteht die Denkrevolution des Anthropozäns?

Renn: Der Denkumbruch des Anthropozäns ist fundamental, und zwar in räumlicher und zeitlicher Dimension. Räumlich, weil es um planetare Dimensionen geht, nicht nur um die Summe lokaler Entwicklungen. Zeitlich, weil im Anthropozän die historische und die geologische Zeit aufeinander bezogen sind in einer Weise, wie man das vorher so nicht gesehen hat. Offensichtlich ist, dass der Mensch in historischer Zeit Ressourcen verbraucht, die in der Natur in Millionen von Jahren entstanden sind. Wir haben den Planeten lange als passive Spielfläche für menschliches Handeln gesehen. Das ist auch tief in religiösen Vorstellungen verwurzelt: "Macht euch die Erde untertan." Aber heute sehen wir, dass der Planet ein Teil unseres Geschehens geworden ist und sich nicht neutral verhält. Wir müssen uns der eigenen Verantwortung bewusst werden, das muss letztlich in politisches Handeln münden.

STANDARD: Wozu brauchen wir Wissenschaftsgeschichte, um das Anthropozän fassen zu können?

Renn: Das Zeitalter des Anthropozäns ist durch die Auswirkungen menschlichen Eingreifens auf den Planeten als Ganzes gekennzeichnet. Der Klimawandel ist wohl das deutlichste Phänomen, aber es gibt noch viele andere Aspekte: die Erosion der Böden, die Versauerung der Meere, der Verlust von Biodiversität. Der Mensch ist als geologische Kraft wirksam geworden. Diese gewaltigen Ausmaße sind nur möglich geworden, weil Menschen sich der Technologie bedient haben, die zu einem nicht geringen Teil auf Wissenschaft beruht. Das Anthropozän ist also ein Phänomen, das von der Wissenschaft und der Technik angetrieben worden ist. Deswegen können Wissenschafts- und Technikgeschichte auch eine entscheidende Rolle bei der Beantwortung der Fragen spielen: Wie sind wir da hineingeraten und welche Chancen haben wir, diesen Prozess heil zu überstehen?

STANDARD: Geht es dabei um die Rettung der Erde oder doch eher um uns Menschen?

Renn: Die Erde braucht den Menschen nicht. Es geht auch nicht darum, wie wir ein paar Exemplare unserer Art retten können, sondern unsere Kultur, die sich in Tausenden von Jahren entwickelt hat, und wie wir für möglichst viele Menschen ein gutes Leben im Anthropozän ermöglichen können.

STANDARD: Was spricht dafür, dass Wissenschaft und Technik dazu einen Beitrag leisten können, wenn sie doch das Anthropozän mit herbeigeführt haben?

Renn: Selbst wenn Wissenschaft und Technik die hauptverantwortlichen Kräfte für die beschleunigten planetaren Veränderungen sind, kann das nicht bedeuten, dass wir auf sie verzichten und in einen Naturzustand übergehen können. Den bekommen wir nicht so einfach zurück. Für mich ist das augenscheinlichste Beispiel dafür die Kernkraft: Wenn wir uns jetzt entscheiden, aus der Kernkraft auszusteigen, haben wir immer noch radioaktiven Materialien, die über Hunderttausende von Jahren gelagert, überwacht und studiert werden müssen. Ohne Wissenschaft und Technik und vor allen Dingen ohne ihre kritische Betrachtung kommen wir da nicht heraus. Die Wissenschaft nimmt eine Doppelrolle im Anthropozän ein: Sie hat entscheidende Beiträge geleistet, aber es gab immer auch nichtbeabsichtigte Konsequenzen.

STANDARD: Wie lässt sich dieser Doppelrolle der Wissenschaft im Anthropozän begegnen?

Renn: Es braucht einen Dialog, auch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, um die voneinander abgeschotteten Diskurse wieder eine größere Perspektive einzubringen: Was machen wir hier eigentlich, was für ein Experiment führen wir mit unserem Planeten durch? Ein konkretes Beispiel wären Bürgerdialoge über den notwendigen Umbau des Energiesystems.

STANDARD: Der Begriff des Anthropozäns ist nicht unumstritten. Was spricht für ihn, was dagegen?

Renn: Das Anthropozän ist aus meiner Sicht der passende Begriff, aber er birgt auch die Gefahr von Missverständnissen: zum Beispiel, alle Menschen gleichermaßen in die Verantwortung zu ziehen, obwohl die Machtmöglichkeiten von Menschen sehr unterschiedlich verteilt sind. Es gibt viele Menschen, die unter dem, was einige wenige tun, zu leiden haben. Zugleich halte ich den Begriff aber für wertvoll, weil er zum ersten Mal eine Brücke zwischen den Naturwissenschaften und den Humanwissenschaften geschlagen hat und damit Einsichten in die Wechselwirkungen verschiedener globaler Transformationsprozesse verspricht. Hier entstehen auch neue Perspektiven für die Grundlagenforschung, deshalb diskutieren wir in der Max-Planck-Gesellschaft zurzeit über die Gründung eines Max-Planck-Instituts für Geoanthropologie.

STANDARD: Wir befinden uns im Anthropozän in der paradoxen Situation, dass wir noch nie so viel Wissen über den Zustand der Erde hatten, trotzdem bleiben die entsprechenden Taten aus. Braucht es neue Systeme des Wissens und der Wissensvermittlung?

Renn: Das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt. Die Wissenschaft ist zersplittert. Sie lebt von einem hochspezialisierten Publikationswesen, das es sehr schwer macht zu überblicken, welche Verbindungen es zwischen einzelnen Wissensbereichen gibt. Ich denke, man kann mit den digitalen Möglichkeiten, die wir heute haben, eine ganz andere Wissensökonomie entwickeln – Stichwort: Open Science. Was die Öffentlichkeit angeht, ist es wichtig, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, wie Wissenschaft eigentlich funktioniert. Zur Wissenschaft gehören natürlich auch Kontroversen. Manche Kontroversen, etwa über den Klimawandel, werden allerdings auch gezielt geschürt, um den Eindruck zu erwecken, dass wir nicht handeln müssen, sondern so weitermachen können wie bisher.

STANDARD: Welche Lösungen gibt es für die Probleme im Anthropozän? Könnte die Rettung im Geoengineering, also in globalen technischen Eingriffen in die chemischen Kreisläufe der Erde, liegen?

Renn: Im gegenwärtigen Zustand wissen wir einfach zu wenig über das Erdsystem, als dass die Folgen solcher Eingriffe überschaubar wären. Ich halte Geoengeneering daher für sehr riskant. Dass wir darüber nachdenken müssen, würde ich aber nicht in Abrede stellen. Andererseits glaube ich, dass wir nach anderen Skalen suchen müssen, auf denen wir handeln können, die nicht unbedingt global sind. Natürlich spielt auch das individuelle Handeln eine Rolle, also zum Beispiel, wie wir reisen und welchen ökologischen Fußabdruck wir hinterlassen. Aber es gibt auch noch andere Skalen, jene der Stadt, der Region, des Staates und Europas, auf denen wir politisch handeln können und müssen. Wenn wir es schaffen würden, in Europa ein nachhaltiges Energiesystem zu etablieren, einschließlich der dafür nötigen neuen Technologien, hätte das unmittelbar weltweite Auswirkungen. Charakteristisch für das Anthropozän sind die Fernwirkungen – das kommt aus der Meteorologie, wenn zum Beispiel die Auswirkungen eines El- Niño-Phänomens global zu spüren sind. Aber es gibt auch Teleeffekte politischer und wirtschaftlicher Art. Deswegen glaube ich, wenn man etwa hier in Europa erfolgreich Nachhaltigkeit praktiziert, dann könnte das rasche, globale Auswirkungen haben. Darin liegen meine Hoffnungen. (Tanja Traxler, David Rennert, 29.4.2019)