Mitterlehner 2014 als neuer Parteichef, Vorgänger Spindelegger.

Foto: Robert Newald

In seinem Buch "Haltung" arbeitet Reinhold Mitterlehner den Machtkampf um die Führung der ÖVP auf, den schließlich Sebastian Kurz für sich entschied. Steuerberater Gottfried Schellmann hält Mitterlehners Kritik für überzogen, im Gastkommentar erläutert er, warum.

Der ehemalige Vizekanzler Reinhold Mitterlehner beglückte die Öffentlichkeit, vor allem jenen Teil, der mit der Regierung nicht zurande kommt. Wichtigste Botschaft ist, er wurde weggemobbt von einem, der "illoyal" an die Spitze wollte. Das ist seine Wahrnehmung.

Sebastian Kurz' Weg an die Spitze hat viel mit dem Zustand der ÖVP vor der Übernahme durch ihn zu tun. Sein politischer Einstieg in die Junge ÖVP und die Übernahme der Bundesobmannschaft waren eine Zäsur – er baute die schläfrige Organisation zu einem schlagkräftigen, ihm loyalen Verband um. Gefördert wurde er von Josef Pröll und insbesondere von dessen überraschend an die Spitze gelangtem Nachfolger Michael Spindelegger. Als Staatssekretär im Innenministerium erlangte er einen hohen Bekanntheitsgrad, der ihm zu den meisten Vorzugsstimmen aller Politiker bei der Wahl 2013 verhalf.

Defizite der ÖVP

Die Obmannschaft Spindeleggers war eine, in der die Defizite der ÖVP mehr als offensichtlich wurden. Keine Solidarität der Bünde und Landesorganisationen, die Bundespartei war von den finanziellen Beiträgen der Landesorganisationen oder Bünde abhängig und immer erpressbar. So hatte der Wirtschaftsbund aus den Kammertransfers rund 18 Millionen Euro zur Verfügung und die Bundespartei etwa 6,5 Millionen zur Finanzierung von Organisation und Wahlkämpfen.

Spindeleggers ohnehin vorsichtiger Versuch, auf die geänderten Bedingungen aufgrund des Lissabonner Vertrags zu reagieren, der den Außenministern die Teilnahme am Europäischen Rat entzog und damit nur noch dem Bundeskanzler eine geeignete Plattform ermöglichte, endete mit einem Desaster und einem Putschversuch des Wirtschaftsbunds, weil er überlegte, in das Finanzministerium zu wechseln, um im Ecofin-Rat mitzuwirken. Die Alpbach-Attacke im August 2012 war peinlich und wurde von Christoph Leitl und Mitterlehner orchestriert.

Chance ergriffen

Diese Erlebnisse haben Kurz veranlasst, seine eigenen Vorstellungen umzusetzen und zuallererst die ÖVP zu reformieren und dem Bundesobmann jene Rolle zuzuordnen, die er ausfüllen können muss, nämlich Chef zu sein und sich nicht von Teilorganisationen vorführen lassen zu müssen. Die Vorbereitungen für eine Reform wurden innerhalb der JVP ab 2014 getroffen, genauso wie es im Wirtschaftsbund auch Reformpläne gab. Es war sogar eine eigenständige Wahlbewegung denkbar. Die Darstellung in manchen Medien, die Überlegungen seien einem Putsch gleichzusetzen, sind angesichts einer ÖVP, die eher der Stammesversammlung der Paschtunen glich, unvollständig.

Kurz ergriff seine Chance, mutiger als alle in der ÖVP zuvor, erzwang die notwendigen Reformen, stellte sich der Wahl und gewann. Ob das internen oder externen Mitbewerbern gefällt oder nicht, so funktioniert Politik. Oder war die Vorgangsweise um den Wechsel an der Spitze der SPÖ 2016 oder gar die Konkurrenzierung der Grünen durch die Liste Pilz ein zu glorifizierender Akt der Solidarität?

Flüchtlingskrise und Registrierkassenpflicht

Mitterlehner war aus den Mitteln der Kammerorganisation, bezahlt durch die Pflichtmitglieder, immer privilegiert abgesichert (er bekam die Abfertigung als Generalsekretärstellvertreter, weil er karenziert war, und hat Anspruch aus der Pensionskasse, in die die Kammer einzahlte). "Django" hin oder her, er war keine Integrationsfigur der Partei. Bei der Aufarbeitung seines politischen Schicksals übersieht er, dass unter seiner Vizekanzlerschaft 2015 der Staat in der Flüchtlingskrise völlig versagt hat. Er versteht bis heute nicht, dass es nach dem Recht der EU eine Verpflichtung zur Registrierung gab, die die Erfassung von Fingerabdrücken von Illegalen im Schengenraum zwingend vorsieht und nichts mit dem eigentlichen Asylverfahren zu tun hat.

Er versteht auch nicht, dass unter seiner Vizekanzlerschaft mit der an sich notwendigen Einführung der Registrierkassenpflicht völlig überzogen wurde, noch dazu von einem Finanzminister (Hans Jörg Schelling), der selbst an aggressivsten Steuergestaltungen zulasten Österreichs beteiligt war (Malta-Konstruktion von Lutz). Ganz nach dem Motto, man jage die Tennislehrer und kleinen Wirte und lasse Steueroptimierern ihren Freiraum. Hüttenwirte wurden mit 40 Finanzpolizisten umstellt, an der Grenze hatten weniger Sicherheitskräfte Dienst.

Nicht frei von Mängeln

Wenn er meint, dass die Regierung illiberale Tendenzen habe, sei erinnert, dass in seiner Zeit als Abgeordneter die Verfassung missbraucht wurde, wie es selbst Viktor Orbán nicht andenken würde. Die Nennung der Kammern in der Verfassung kann man eventuell durchgehen lassen. Aber um einen Wahlkampfgag zu verwirklichen, hat man die Beiträge zur Selbstständigenvorsorge zu einem Pflichtbeitrag gemacht. Das Problem war, dass viele Selbstständige bereits Pension beziehen und keine Vorsorge benötigen. Um eine mögliche Anfechtung vor dem Verfassungsgerichtshof zu verhindern, hat man den Paragrafen 49 des Gesetzes als Verfassungsgesetz beschlossen, mit dem Hinweis in den Erläuterungen, dass das Grundrecht auf Eigentumsschutz ausgehebelt werden soll. Illiberaler, perfider geht es wohl nicht.

Die Regierung Kurz ist bei weitem nicht frei von Mängeln. Die Koalition mit der FPÖ ist ein Ergebnis eines vorangegangenen Staatsversagens, welches die fortschrittlichen Kräfte in dem Land noch lange vom Regierungseintritt abhalten wird. Die Medien werden nicht aufhören, den "Nazi der Woche" (© Rosemarie Schwaiger, "Profil") ausfindig zu machen. Nützt nichts, die Wähler sehen es anders. (Gottfried Schellmann, 25.4.2019)