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Mick Jagger ist ein Meister darin, Menschen das Gefühl direkter Ansprache zu geben. Populisten lernen daraus.

Reuters

Der deutsche Philosoph und Sportwissenschafter Gunter Gebauer.

"Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen", veröffentlicht mit Co-Autor Sven Rücker.

Foto: DVA

Bis vor kurzem schien die Sache klar zu sein: Im Zeitalter des Individualismus, hieß es, sei der Massenenthusiasmus von einst überholt. Stimmt nicht, sagen die deutschen Philosophen Gunter Gebauer und Sven Rücker. In ihrem gut zu lesenden Buch Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen (DVA, 2019) stellen sie alte Massentheorien von Freud, Canetti oder Le Bon angesichts aktueller Tendenzen auf den Prüfstand. Ihr Befund: Massen erfahren regen Zulauf, denn gerade das Individuum könne sich heute stärker als jemals zuvor in ihnen verwirklichen.

STANDARD: Waren Sie je auf einem Rolling-Stones-Konzert?

Gebauer: Ja, natürlich. Anfang der 70er-Jahre, als die Stones noch ganz gut waren und man dabei auch noch kiffen konnte. Wir hatten 150 Kilometer Anfahrt, im Auto wurden Musikkassetten gehört. Es waren dann 15.000 Leute beim Konzert. Ein Heidenspaß.

STANDARD: Gilt bei solchen Events noch immer das antike Konzept von Brot und Spielen, einer Triebabfuhr für die Massen?

Gebauer: Das Schlagwort Brot und Spiele wurde erst im 19. Jahrhundert negativ aufgeladen und popularisiert. Es ist ein antikes Konzept, wo es sich darum gehandelt hat, dass das römische Volk vom Kaiser ernährt und unterhalten wurde. Daher hat sich der Kaiser auch Gefolgschaft erwartet. Ein solches Konzept greift im 21. Jahrhundert nicht mehr.

STANDARD: Sondern?

Gebauer: Erfahrungen wie 1968 und später in der Popkultur haben mich früh dazu gebracht, das Phänomen der Massen etwas anders zu sehen: Einerseits gibt es nämlich die Einigkeit in der Liebe zu den Stars, aber andererseits auch den Individualismus. Das Ich geht bei einem Rolling-Stones- Konzert nicht einfach in der Masse auf. Das Erlebnis reduziert das Ich nicht, sondern stärkt es sogar. Mick Jagger etwa ist ja unheimlich gut darin, das Publikum direkt anzusprechen. So entsteht eine Art Dialog zwischen Publikum und Star. Das ist das Metier der guten Entertainer, die es schaffen, einem das Gefühl zu geben, man selber sei gemeint. Das trifft zwar kaum zu, aber es ist schwer, sich dem zu entziehen.

STANDARD: Der Zugang zu Massenevents wie Stadionkonzerten oder Fußball-Champions-League-Spielen wird immer teurer, touristischer, exklusiver. Wohin führt das?

Gebauer: Es findet eine Exklusion durch die Rarität der Tickets statt. Das heißt: Es bleiben viele ausgeschlossen. Diejenigen aber, die reinkommen, für die ist das Massenerlebnis umso besser, ein Unterscheidungsmerkmal, das Wohlstand, einen bestimmten Geschmack und Zugehörigkeit zu einem exklusiven Zirkel anzeigt. Hinzu kommt aber, dass Dinge wie die Fußball-WM via Public Viewing auch nach draußen übertragen werden. Und auch dort finden sich ja mittlerweile Massen ein.

STANDARD: Eine Zweiklassengesellschaft zwischen jenen, die drinnen im Stadion sind, und jenen, die draußen bleiben müssen?

Gebauer: Diejenigen, die unmittelbar dabei sind, haben ein Recht erworben, für das sie beneidet werden. Auf einen, der es geschafft hat, kommen Hunderte oder Tausende, die das auch gerne hätten. Die können dann nur neidisch sein. Die, die drin waren, können hinterher sagen, sie waren dabei.

STANDARD: Bei den kulturellen Massen erleben wir seit den 80er-Jahren eine starke Pluralisierung. Gibt es die parallel auch bei den politischen Parteien?

Gebauer: Ja. Bei kulturellen Massen erleben wir seit Jahrzehnten eine Auffächerung des Geschmacks: Verschiedenste Kunstausstellungen laufen parallel, unterschiedlichste Musiktrends, die allesamt erfolgreich sein können, finden quasi zeitgleich statt. Bei politischer Betätigung kommt hinzu, dass die Möglichkeit, sich als Individuum in einer Masse zur Geltung zu bringen, viel attraktiver geworden ist, als das vor 30 bis 40 Jahren der Fall war.

STANDARD: Und die einst großen Volksparteien bluten in alle politischen Richtungen aus.

Gebauer: Ich sehe das als Ergebnis einer Stärkung des Individuums in Massenerscheinungen. Das konnte man in Deutschland sehr gut an der Entstehung von Pegida ablesen. Einzelne Individuen haben sich damals zu einer Massenerscheinung zusammengefunden: Der Einzelne hat sich versichert, dass er nicht allein ist mit seiner Meinung. Gleichzeitig betonte man dort das Vorhandensein einer Gegenmasse. Wenn dann auch noch eine politische Partei wie die AfD dazukommt, die so eine Bewegung aufnimmt, wird das auch noch gefestigt. Die Parallele zur Kultur stimmt: Ein Zweiparteiensystem wie "Beatles oder Stones" ist nicht mehr haltbar, die Szenerie hat sich enorm diversifiziert.

STANDARD: Gewinnt in dieser Krise der Repräsentanz automatisch der Populismus?

Gebauer: Ja, denn der Populismus ist ausgezeichnet darin, auf die Spontaneität der Leute zu setzen und diese zu mobilisieren. Da können auch ruhig einmal Dinge gesagt oder getan werden, die nicht gut überlegt sind. Die meisten aktuellen politischen Massen setzen auf eine unmittelbare Wirksamkeit ihrer Aktionen. Man hat den Anspruch, Politik direkt und sofort zu beeinflussen.

STANDARD: Was kann die Volksparteien vor dem Ausbluten retten?

Gebauer: Ich habe noch kein gutes Gegenkonzept gesehen. Eher noch sehe ich, dass neben den Rechtspopulisten auch andere kleinere Parteien Erfolge erzielen können.

STANDARD: Jetzt könnte man ja sagen, dass diese Ausdifferenzierung der Parteiensysteme viel demokratischer ist als das frühere System.

Gebauer: Ja, nur darf man nicht vergessen, dass auch in großen Volksparteien interne Diskussionen stattfinden. Das ist vielleicht der Vorteil einer Volkspartei, dass sie die Möglichkeit hat, innerhalb der Partei differenzierte Meinungsbildung oder Flügelkämpfe zuzulassen. Das Demokratische kann auch in einer großen Partei funktionieren. Es sollte nicht so sein, dass jede Meinung ihre eigene Partei begründet. Das ist etwas, das in der Vergangenheit mitunter auch zur Zerstörung der Demokratie geführt hat.

STANDARD: Die einzige Rettung der großen Volksparteien wäre eine radikale interne Demokratisierung?

Gebauer: Ja, aber auch hier muss man einschränken. Wer zu viele abweichende Meinungen zulässt, läuft Gefahr, zerrissen zu werden.

STANDARD: Zentral bei der Analyse heutiger Massenphänomene ist das Internet. Wie verhält es sich mit den virtuellen Massen?

Gebauer: Bei virtuellen Massen entsteht immer das Gefühl, man beeinflusse etwas direkt. Und oft kippt die virtuelle Massenansammlung ins Physische. Der Weg ist oft sehr kurz. Das sehen wir bei Phänomenen des Flashmobs genauso wie bei großen Revolten wie dem Arabischen Frühling.

STANDARD: Man glaubt heute auch, mit Politikern auf Twitter und Co direkt in Kontakt treten zu können. Ein Trugschluss?

Gebauer: Man scheint direkt angesprochen zu werden – aber man ist ein Adressat unter hunderttausenden. Die Twitter-Nachricht hat die Form einer persönlichen Botschaft an mich. Der Absender macht mir das Angebot einer direkten Beteiligung an seinen Gedanken und Handlungen. So kann ich mich von ihm angesprochen fühlen, ohne dass wir uns kennen.

STANDARD: Durch die digitale Revolution ist es heute auch erstmals möglich, den individuellen Blick aus der Masse heraus für viele sichtbar zu machen.

Gebauer: Die alten Massentheorien haben immer behauptet, dass das Individuum in der Masse aufgeht. Heute ist es so, dass das Individuum und die Masse sich gegenseitig verstärken. Ein gepostetes Selfie aus einer Masse heraus kann wiederum eine weitere Masse erreichen und Teilnahme hervorrufen.

STANDARD: Erstmals ist es auch möglich, Massen zu simulieren.

Gebauer: Wir kennen die Gefahr von Meinungsbots mittlerweile von diversen Wahlen. Natürlich haben diese gefälschten Massen Einfluss auf die Meinung realer Menschen. Das hängt damit zusammen, dass klassische Medien an Bedeutung verlieren. Eine extrem gefährliche Tendenz.

STANDARD: Zwei Massenbewegungen der jüngsten Zeit könnten unterschiedlicher nicht sein: Die französischen Gelbwesten sind führerlos, gewalttätig, programmatisch diffus; die Fridays-for-Future-Schülerproteste haben mit Greta Thunberg eine Ikone, sie demonstrieren friedvoll und sind thematisch klar auf Umweltschutz fokussiert. Zeigt das die Bandbreite?

Gebauer: Die Beobachtung dieser beiden Bewegungen illustriert schon einen sehr großen Teil unseres Buches. Bei den Gelbwesten ist genau das passiert, was wir beschreiben: Es gibt ein aufgeheiztes politisches Klima in einem Land, die politische Führung nimmt bestimmten Gruppen teure Privilegien, dann äußern Leute im Internet ihre Meinungen darüber und jemand schlägt vor, Warnwesten anzuziehen und den Verkehr zu blockieren. Einfachste Massenmobilisierung über das Internet. Die parteipolitischen Möglichkeiten scheinen für viele Leute in Frankreich ausgereizt zu sein, daher wählt man die Straße. Es ist der Linken und Rechten auch nicht gelungen, die Gelbwesten für sich zu vereinnahmen. Bei Greta Thunberg ist es so, dass sich ihre Persönlichkeit, ihre Erscheinung und offenkundige Lauterkeit als ikonische Figur äußerst gut eignet, auch wenn sie eigentlich kein konkretes politisches Maßnahmenpaket vorgelegt hat. Das müssten andere erledigen, die Frage ist, ob politische Parteien so klug sind, die Bewegung aufzunehmen.

STANDARD: Welche dieser beiden Bewegungen wird letztlich mehr erreichen?

Gebauer: Es ist immer schwer zu sagen, welche Erfolge Massen erringen. Die Gelbwesten haben eigentlich schon sehr viel erreicht: eine Reform der Reformpolitik von Macron. Da die Gelbwesten im Kern aber anarchisch-führerlos strukturiert sind, hat man das Gefühl, sie wollen eigentlich alles abschaffen: die Demokratie, den Präsidenten, das Geldsystem. Die wollen nun nicht mehr aufhören. Bei Fridays for Future kann man sagen, dass das Thema schon lange offenkundig ist, aber durch eine neue Generation frisch aufs Tapet kommt. Die Frage ist, wer es aufnehmen kann.

STANDARD: Die Bewegungen sollten sich also institutionalisieren?

Gebauer: Ja, weil sie sich ja nicht ewig weiterbewegen können. Da kommt nichts dabei heraus.

STANDARD: Das Problem von Massen ist, dass sie meist kein Programm für das Danach haben?

Gebauer: Ja, sie haben in der Regel keine Führer und kein Programm. Nun kann es aber passieren, dass sich diese doch herauskristalliseren. Dann wiederum stellt sich die Frage, inwiefern diese die Massen eigentlich repräsentieren. Dort, wo Massen sehr stark werden, können sie auch ausgenutzt werden. Das ist das Gefährliche an ihnen.

STANDARD: Von Elias Canetti stammt der Begriff der Doppelmassen für Bewegungen, die einander hervorrufen und verstärken: Identitäre vs. Antifa, Polizei vs. Schwarzer Block. Ist diese Aufschaukelung gefährdend oder sogar stabilisierend für eine Gesellschaft?

Gebauer: Es kann stabilisierend wirken, wenn sich zwei Teilmassen gegenseitig neutralisieren, wirkungslos machen. Das ist aber nicht der Normalfall. In der Regel schaukeln sich Gegenmassen auf. Aus der Zwischenkriegszeit wissen wir, dass solche Doppelmassen sehr gefährlich sein können.

STANDARD: Wie kann man da Dampf rausnehmen?

Gebauer: Medien und Politik müssen immer wieder auf diese Doppelmassen hinweisen und Debatten moderieren. Die Polizeistrategie der Deeskalation kann direkt auf der Straße entschärfend wirken.

STANDARD: Von traditionsbewahrenden Fußball-Ultras über die Gelbwesten und Occupy-Proteste bis hin zu den kulturellen Subkulturen gibt es ein einigendes Band: Kapitalismuskritik. Warum kommt das in Ihrem Buch etwas kurz?

Gebauer: Den Kapitalismus durch Massen zu kritisieren ist in den letzten Jahrzehnten nicht nachhaltig gelungen. Bei Occupy Wall Street war es so, dass sich die Sache sehr schnell verlaufen hat, weil auch keine Gegner aufgetreten sind. Wären die Banker auf die Straße gegangen und hätten dagegengehalten, hätte die Sache anders ausgesehen. All diese Bewegungen mögen kapitalismuskritische Elemente in sich haben, aber diese Kritik äußert sich nicht sehr prononciert. Den Ultras geht es einmal um bengalische Feuer, dann um zu hohe Ticketpreise, und dann huldigen sie wieder ihren Stars. Das sind alles keine klaren kapitalismuskritischen Haltungen. Ich bin nicht sehr optimistisch, dass Bewegungen erfolgreich sein könnten, die die Auswüchse des Neoliberalismus beseitigen wollen. Dazu wird er von zu großen Teilen der Bevölkerung gestützt.

STANDARD: Stattdessen konstatieren Sie eine zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft in verhärtete Teilmassen, die nicht mehr miteinander kommunizieren. Ist das gefährlich?

Gebauer: Ich sehe darin eine große Gefahr – weil man im Augenblick nicht sehen kann, was diese auseinanderfallenden Teilmassen wieder vereinen könnte. Es ist offenbar nicht die große politische Idee. Die hatte man mit Europa, aber der große Massenenthusiasmus dafür ist aktuell nicht vorhanden. Es müsste eine Einsicht da sein, dass wir in Frieden und relativer wirtschaftlicher Sicherheit leben, dass sich alle Individuen relativ frei entfalten können. Es müsste Ereignisse geben, die uns das begreifen lassen. Ereignisse, die uns sagen: Seien wir doch auch einmal glücklich und zufrieden.

STANDARD: Ein Rolling-Stones-Konzert?

Gebauer: (lacht) Ja. Das wäre zumindest ein Anfang. (Stefan Weiss, 25.4.2019)