Die Diskussion um die Zukunft der EU

Wenn die EU-Bürger vom 23. bis 26. Mai bereits zum neunten Mal ihre direkte Volksvertretung in Brüssel wählen, entscheiden sich über Zukunftsfragen der EU. Die Problemlagen sind vielfältig, umso dringlicher wird nach Visionen gesucht.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ließ 2017 ein Weißbuch zu Szenarien veröffentlichen, wie sich die EU weiterentwickeln könnte. Von "mehr Europa" über die Erhaltung des Status quo bis zu einer Koalition der Willigen oder einem Europa als reinem Binnenmarkt reicht dabei der Bogen.

Die Diskussion darüber kommt nicht so recht vom Fleck, auch wenn Politiker wie Frankreichs Emmanuel Macron regelmäßig versuchen, Impulse für den Zukunftsdiskurs zu geben. Macron will mehr Europa, einen EU-Finanzminister, eine EU-Armee. Am EU-Zukunftsgipfel am 9. Mai will man eine Zwischenbilanz ziehen.

Neue Mitglieder in der Warteschleife

Derzeit hat die EU 28 Mitglieder, nach dem Brexit wären es 27. Die letzte große Erweiterung fand 2004 mit zehn Ländern statt. 2007 wurden dann noch Rumänien und Bulgarien aufgenommen, 2013 Kroatien. Als Beitrittskandidaten in Verhandlungen eingetreten sind Montenegro, Serbien und die Türkei, weitere Kandidaten sind Albanien und Nordmazedonien.

Dazu kommen die potenziellen Kandidaten Kosovo und Bosnien-Herzegowina. Rechtsstaatlich und wirtschaftlich spricht vieles dagegen, diese Länder aufzunehmen. Doch aus geostrategischen Gründen ist es der EU ein Anliegen, den Kontakt so stark wie möglich zu halten. Brüssel hatte den Ländern bei entsprechenden Reformen einen Beitritt bis 2025 in Aussicht gestellt. Der Beitrittsprozess mit der Türkei hingegen liegt seit dem gescheiterten Militärputsch von 2016 und den folgenden demokratiefeindlichen Entwicklungen auf Eis.

Die Beitrittspozesse sind ein Dauerthema in der EU.
Foto: APA/AFP/OLI SCARFF

Angst vor Migration, Tote im Mittelmeer

Auch wenn die Zahl der Flüchtlinge seit 2015 massiv gesunken ist: Das Thema Migration wird die EU weiter beschäftigen. Immer noch ertrinken Menschen im Mittelmeer, immer noch gibt es Flüchtlingsschiffe, die kein Hafen aufnehmen will.

Die Aussetzung der Seenotrettung im Rahmen der Operation Sophia stieß auf heftige Kritik von Kirchen und NGOs, der EU wurde "moralisches Versagen" vorgeworfen. Hintergrund ist unter anderem die Forderung Italiens, gerettete Flüchtlinge auf die EU-Staaten zu verteilen.

Genau diese Maßnahme aber wurde bereits 2015 von den EU-Innenministern per Mehrheitsentscheidung beschlossen. Umgesetzt wurde sie freilich nie, der Widerstand – vor allem aus osteuropäischen Ländern – war zu groß. Gleichzeitig ringen die EU-Mitglieder angesichts niedriger Geburtenraten um ein System für geordnete Zuwanderung.

Streit um die Rechtsstaatlichkeit

In der EU entscheidet der Europäische Gerichtshof (EuGH), ob nationale Regelungen dem Unionsrecht entsprechen. Gleichzeitig aber basieren Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in Europa auch auf einer unabhängigen Gerichtsbarkeit in den Mitgliedsstaaten.

Versuche von Regierungen, Kontrolle über die Justiz auszuüben, führen immer wieder zu Konflikten mit der Europäischen Kommission. Zuletzt stand vor allem Rumänien in der Kritik. Der Vorwurf: Die Regierung wolle durch eine Justizreform Straffreiheit für korrupte Günstlinge erreichen. Gegen Polen und Ungarn laufen sogar Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags, die bis zum Entzug der Stimmrechte führen können.

Rechtsstaatliche Prinzipien werden aber auch anderswo infrage gestellt. In Österreich etwa hat Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) erklärt, Recht müsse der Politik folgen, nicht umgekehrt.

Die Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur in Rumänien unter Bedrängnis.
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Ohne Brexit wohl keine EU-Armee

Dass es beim Ziel einer gemeinsamen Verteidigungspolitik viele nationale Stolpersteine gibt, war von Anfang an klar. Schließlich ist die militärische Komponente ein sensibler Bereich, in dem Souveränität nur äußerst ungern abgetreten wird. Nationalistische Kräfte werden im künftigen Parlament aber eher gestärkt als dezimiert, was die Pläne des scheidenden Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker für eine EU-Armee schmälern dürfte.

Da eine solche Armee aber als ultimative Friedensgarantie zwischen den EU-Staaten fungieren würde, signalisierten Emmanuel Macron und Angela Merkel immer wieder Unterstützung. Jenseits des Ärmelkanals waren vor allem die Briten stets ablehnend. Sollte es zum Brexit kommen, wird neuer Wind in die Debatte kommen. Schließlich gilt es, die militärische Schwächung ohne Briten zu kompensieren und Kräfte zu bündeln.

Power im globalen Kräftemessen

Der Kampf um den Wohlstand wird von den USA (America first) und von China (Made in China 2025) mit Vehemenz geführt. Eine multilaterale Weltordnung steht bekanntlich nicht auf der Agenda von US-Präsident Donald Trump und Chinas Präsident Xi Jinping. Die Wirtschaftspolitik dominieren Protektionismus und Nationalismus.

Und das in Zeiten, in denen Europa ökonomisch vor großen Herausforderungen steht. Eine europäische Antwort auf die steife Brise fehlt. Geht es um die Spielregeln im globalen Kräftemessen, braucht es Einigkeit, eine Reformagenda und die Bereitschaft zu kämpfen.

Europa kann etwa nicht akzeptieren, dass chinesische Unternehmen über weite Teile von einem offenen Zugang zum europäischen Markt profitieren, während China seinen Markt – trotz anders lautender Bekundungen – weitgehend abschottet.

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Im globalen Kräftemessen mit China und den USA muss die EU Stärke und Geschlossenheit zeigen.
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Impulse für Wachstum und Innovation

In den vergangenen Jahren hat sich Europa wirtschaftlich erholt. Im Vergleich mit den USA und China wuchs die Wirtschaft aber wenig dynamisch. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA wuchs seit 2008 real um 22 Prozent, das chinesische BIP hat sich in diesem Zeitraum verdoppelt, die Wirtschaftsleistung der EU wuchs um 17 Prozent.

Will Europa im globalen Wettbewerb mithalten, braucht es eine gesunde Mischung aus kleinen, mittleren und großen Unternehmen. Ein noch gründerfreundlicheres Umfeld ist gefragt.

Damit könnte man auch das Problem adressieren, dass die Technologieskepsis in Europa ein Hemmschuh für Innovation ist. Denn bei disruptiven Innovationen, Zukunftstechnologien wie künstlicher Intelligenz oder Digitalisierung insgesamt fehlt das Feuer – und der großflächige Breitbandausbau sowie ein digitaler Binnenmarkt.

Strenge Regeln für einen Euro-Haushalt

Durch die Finanzkrise ist die Euro-Zone mehr schlecht als recht gekommen. Die Nachwehen sind immer noch nicht verdaut. Das zögerliche Krisenmanagement ist dafür wohl nur ein Grund.

Weitaus gewichtiger: Die Währungsunion ist unvollendet. Ihr fehlt der politische Überbau samt Euro-Finanzminister und Euro-Budget. Politische und ökonomische Stärkung sind derzeit aber mehr gefragt als je zuvor. Dafür braucht es auch eine unabhängige Institution, die ein scharfes Auge auf die Haushaltspläne der Mitgliedsstaaten wirft und jene, die sich über die Schuldenregeln geflissentlich hinwegsetzen, auch sanktioniert.

Derzeit schaut die EU eher hilflos zu, wie fiskalische Disziplin in Italien zum Unwort geworden ist und in Frankreich ad acta gelegt wird. Seit Ausbruch der Finanzkrise ist die Staatsverschuldung in Europa um 42 Prozent gestiegen. (Manuela Hosnig-Erlenburg, Regina Bruckner, Gerald Schubert, Fabian Sommavilla, 25.4.2019)