Es ist ein häufiger, immer wieder neu in Umlauf gebrachter Irrglaube, die Kritik an Sexismus hätte irgendetwas mit Sexfeindlichkeit zu tun.

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#MeToo steht für eine bewegungsfeministische Zäsur: Kein anderes politisches Ereignis vermochte bisher das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern in derart geballter Form sichtbar zu machen und Kommentatoren rund um den Globus zu erschüttern. Eine Erschütterung, deren Vorzeichen sich seit langem ankündigten. Seit Jahrzehnten kämpfen feministische Aktivistinnen und Theoretikerinnen schließlich um Öffentlichkeit für sexuelle Gewalt gegen Frauen, die im Patriarchat System hat.

Das Private ist politisch

Eineinhalb Jahre nach den ersten #MeToo-Enthüllungen formieren sich wieder jene Stimmen, die die Verhandlung von Selbstbestimmung und Konsens bei sexuellen Begegnungen ganz lapidar zur Prüderie umdeuten. Übergriffiges Verhalten der "Eroberer" – das sollen Frauen als passive Objekte des Begehrens möglichst still erdulden. Zumindest, solange keine strafrechtlichen Grenzen überschritten werden. An diesem patriarchalen, zweigeschlechtlichen Modell von Sexualität arbeiten sich Feministinnen schon seit den 1960er-Jahren ab.

"Sexualität ist ein zentrales, wenn nicht sogar das Thema der Zweiten Frauenbewegung", sagt die Politikwissenschafterin und Gendertheoretikerin Cornelia Möser, die an einem Buch zu Sexualität im feministischen Denken arbeitet. Auch wenn die Forderung nach einer Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und das Thema Prostitution schon die erste Welle der Frauenbewegung begleiteten, waren es in Europa Zweite-Welle-Feministinnen, die an gesellschaftlichen Tabus rüttelten und Fragen sexueller Selbstbestimmung in Frauengruppen und auf die Straße trugen.

Die "sexuelle Revolution", die von der 68er-Bewegung im studentischen Umfeld angestoßen wurde und mit dem Siegeszug der Antibabypille und Reformen im Familienrecht einherging, entpuppte sich für Frauen als bedingt revolutionär – feministische Kritik wurde laut: Die Befreiung von einer rigiden Sexualmoral gebe es nicht ohne die Thematisierung der Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen. In Selbsterfahrungsgruppen, wo Frauen sich ein Vokabular für ihr sexuelles Erleben aneigneten und das Private zum Politischen erklärten, wurden Gewalterfahrungen zum verbindenden Element über Klassenunterschiede oder andere Differenzen hinweg gemacht, erklärt Möser: So sollten die Arbeiterin und die Studentin anhand erlebter Übergriffe in der Familie oder Gewalt durch den Partner Gemeinsamkeit erfahren.

Frau wird man

In Deutschland sorgte Alice Schwarzer mit ihrem 1975 veröffentlichten Buch "Der kleine Unterschied und seine großen Folgen", in dem siebzehn Frauen über ihre sexuellen Erfahrungen berichteten, für hitzige Debatten. "Mir ist heute klar geworden, dass die Sexualität der Angelpunkt der Frauenfrage ist: Spiegel und Instrument der Unterdrückung der Frauen. Hier fallen die Würfel. Hier liegen Unterwerfung, Schuldbewusstsein und Männerfixierung von Frauen verankert. Hier steht das Fundament der männlichen Macht und der weiblichen Ohnmacht", schrieb Schwarzer darin. Erst wenige Jahre zuvor hatte die Journalistin und spätere "Emma"-Gründerin gemeinsam mit Verbündeten den Schwangerschaftsabbruch auf die politische Agenda gesetzt, als prominente Frauen nach französischem Vorbild im "Stern" erklärten, abgetrieben zu haben.

Die hart erkämpfte Fristenregelung, die in Österreich einen zumindest straffreien Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Bedingungen ermöglichte, markierte den Startpunkt einer tatsächlichen sexuellen Revolution für Frauen: Mit einer Abtreibung in Hinterhöfen oder auf dem Küchentisch hatten vor allem Frauen ohne entsprechende finanzielle Mittel ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben riskiert.

In Frankreich, wo Schwarzer als Korrespondentin arbeitete, freundete sich die vehemente Pornografiegegnerin mit Simone de Beauvoir an, deren Buch "Das andere Geschlecht" zum feministischen Standardwerk avancierte. Obwohl die Philosophin und Schriftstellerin es bereits 1949 in zwei Bänden veröffentlicht hatte, fand es erst in den 1970er-Jahren im Rahmen der Neuen Frauenbewegung seinen Weg in die deutschsprachige Debatte. "Man wird nicht als Frau geboren, man wird es", so der berühmte Satz der Denkerin – Sexualität setzte Simone de Beauvoir als maßgeblich für dieses geschlechtliche Werden.

Lesbisches Begehren, ein zentrales Thema der Zweiten Frauenbewegung, habe de Beauvoir hingegen nicht zu erfassen vermocht, kritisiert die Philosophin Jule Govrin im STANDARD-Gespräch. Eine Zeitgenossin Simone de Beauvoirs, die französische Theoretikerin Monique Wittig, stellte sich als Vordenkerin queer-theoretischer Ansätze gegen heteronormative Denkmodelle, also eine Gesellschaft, die Heterosexualität als Norm setzt: Texte, die die US-amerikanische Starphilosophin Judith Butler weiterentwickelte und dabei den Begriff der "heterosexuellen Matrix" prägte.

Sexkriege

In den USA führten Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre Feministinnen heftige Auseinandersetzungen, die als "feminist sex wars" in die Geschichte eingingen. An Themen wie Pornografie und lesbischem BDSM entzündeten sich Debatten, die feministische Strömungen bis heute teilen. Während radikalfeministische Denkerinnen etwa eine lustvolle Unterwerfung immer schon als patriarchal geprägt sahen und somit verdammten, pochten sexpositive Feministinnen auf ein Recht auf sexuelle Lust und Freiheit unabhängig vom Geschlecht. Letztere unterstützen auch Sexarbeiterinnen, die sich zu einer Hurenbewegung formierten, in ihren Kämpfen für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen – Dienstleisterinnen, denen von PorNO-Feministinnen das Recht zur freiwilligen Ausübung ihrer Tätigkeit meist grundlegend abgesprochen wird.

Der (weibliche) Körper blieb in feministischen Auseinandersetzungen über Jahrzehnte hinweg zentraler Bezugspunkt – sowohl in der Theoriebildung als auch in der Bewegungspraxis. In Selbsterfahrungsgruppen erkundeten Frauen den eigenen Körper – insbesondere die einstige Dunkelzone Vulva samt Klitoris und Vagina. "Der eigene nackte Körper und der der anderen, das Streicheln des eigenen Körpers und die angenehmen Gefühle, die daraus entstehen, das alles war für uns tabu", schilderten es zwei Frauen in der feministischen Zeitschrift "AUF" 1975.

Errungenschaften und Leerstellen

Der enge Austausch von feministischer Theorie und politischen Bewegungen erwies sich im Kampf um sexuelle Selbstbestimmung stets als produktiv: Errungenschaften wie die Fristenregelung, die Anerkennung nichtbinärer Lebensweisen oder die zunehmende Sichtbarkeit alternativer Beziehungsformen erscheinen ohne Feminismus undenkbar. "Die Kritik an Schönheitsidealen und die Sichtbarkeit von anderen Körper- und Begehrensformen: Dazu hat die feministische Theoriebildung ganz maßgeblich beigetragen", sagt Philosophin Jule Govrin.

Doch die Diversität hat auch Fallstricke parat. Seine enorme Anpassungsfähigkeit demonstriert der neoliberale Kapitalismus, indem er feministische Forderungen und Kampfbegriffe vereinnahmt: Body-Positivity und sexuelle Selbstbestimmung funktionieren nicht nur als politische Forderungen, sondern auch im Werbespot für glattrasierte Achseln.

"Deshalb ist es wichtig, Forderungen nach sexueller Selbstbestimmung und Autonomie wieder stärker in einen sozialen Zusammenhang zu rücken. Der Begriff der Selbstbestimmung funktioniert heute unglaublich individualisiert – Feminismus geht es aber immer darum, soziale Beziehungen und damit Gesellschaft zu verändern", so Govrin. (Brigitte Theißl, 25.4.2019)