Da Jos de Blok, einst selbst Pflegefachkraft, genug von der Managerkultur im Pflegebereich hatte, gründete er 2006 Buurtzorg. Mittlerweile sind 750 Pflegeteams in den Niederlanden im Einsatz.

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Wetten, dass sie pünktlich ist? Ton Driehuis wirft einen Blick auf die Küchenuhr in seiner behindertengerechten Wohnung in Voorschoten bei Den Haag. Kurz vor neun Uhr morgens. "Nach Mariette kann man die Uhr stellen!", weiß der 58-jährige Diabetespatient und richtet sich in seinem Rollstuhl auf, um besser durchs Fenster schauen zu können.

Vor vier Jahren wurde sein rechtes Bein über dem Knie amputiert. Das linke Bein ist eingegipst. "Wegen einer Wunde an der Ferse, die nicht heilen will", erzählt er, als die Klingel ertönt. Kurz darauf erscheint die Pflegefachkraft Mariette van Santen im Hausflur, eine energische Niederländerin Anfang 60 mit blondem Kurzhaarschnitt. "Ich habe einen eigenen Schlüssel, aber ich klingle immer erst an", erklärt sie und begrüßt gut gelaunt ihren Patienten.

Ton braucht jeden Tag Hilfe beim Waschen und Säubern der Wunde. Auch den Stützstrumpf kann er sich nicht allein anziehen. Noch nicht. Denn bald bekommt er einen neuen, aus einem anderen Material. Und dann soll er lernen, ihn sich selbst anzuziehen: "Unsere Patienten sollen möglichst selbstständig bleiben oder es wieder werden", sagt Marietta. "Das ist wichtig für ihre Würde und ihr Selbstwertgefühl."

"Gehört fast zur Familie"

Offiziell stehen ihr pro Besuch 25 Minuten zur Verfügung. Aber wenn jemand mehr Zeit braucht, dann nimmt sie sich die. "Anderswo geht's manchmal schneller. Das gleicht sich wieder aus", meint sie.

"Eigentlich gehört Mariette fast schon zur Familie", sagt Ton. Das sei schon etwas ganz Besonderes. Und alles andere als selbstverständlich: Kurz nach der Beinamputation hatte er sich zunächst von einem anderen ambulanten Pflegedienst versorgen lassen, einem großen Unternehmen.

Schlechte Erfahrungen

"Da kamen am Tag verschiedene Leute. Der eine hat mich gewaschen, der andere angezogen, der Dritte versorgte die Wunde." Furchtbar sei das gewesen: "Oft wusste die eine Pflegekraft nicht, was die andere getan hatte, dann musste ich wieder alles erklären."

Mariette hingegen, die sei genau im Bilde. Die 62-Jährige arbeitet bei Buurtzorg, zu Deutsch in etwa Nachbarschaftshilfe. Das ist ein ambulanter Pflegedienst mit einem völlig neuen Konzept: Buurtzorg besteht aus kleinen Teams von vier bis sechs Pflegekräften, die im ganzen Land im Einsatz sind – und zwar selbstständig, in eigener Regie. "Wir haben keinen direkten Vorgesetzten, wir regeln alles selbst, ganz basisdemokratisch", erklärt sie.

Für Mariette war das eine völlig neue Erfahrung, denn vorher hatte sie bei einer großen Pflegedienstorganisation gearbeitet, "in einem großen Gebäude mit vielen Telefonistinnen, Sekretärinnen und noch mehr Managern".

Manager als Feinde

Von denen sei sie nun zum Glück erlöst. Dafür hat Jos de Blok gesorgt, der Direktor von Buurtzorg. Der 58-Jährige hat selbst einst als Pflegefachkraft begonnen – bis er von der Managerkultur genug hatte. 2006 gründete er Buurtzorg. 750 Teams sind inzwischen im Einsatz. Sie bilden die Basis. An der Spitze: eine nach wie vor kleine Zentrale mit 40 Angestellten, die Buchhaltung und Bezahlung sowie den Kontakt mit Patienten und Krankenversicherungen regeln. Dazwischen: nichts. Denn Manager betrachtet Jos de Blok als seine natürlichen Feinde: "Sobald jemand Manager wird, und das ist das Problem, glaubt er, die Welt sei von ihm abhängig."

Österreich zeigt Interesse

Inzwischen gibt es das Konzept auch in Australien, Japan und den USA. In Deutschland läuft ein Pilotprojekt, in vielen weiteren europäischen Ländern, darunter Österreich, besteht Interesse. "Eine längst fällige Reaktion auf die Bürokratisierung des Gesundheitswesens in den 1990er-Jahren, als alles immer größer werden musste", sagt Henk van Gerven, ehemaliger Hausarzt und Gesundheitsexperte der niederländischen Sozialisten.

Das Buurtzorg-Modell sorge für motiviertere Pflegekräfte und zufriedenere Patienten und beweise obendrein, dass bessere Pflege nicht unbedingt teurer sein müsse. Im Gegenteil, sagt er: "Unterm Strich ist es billiger, weil es weniger Manager und weniger Bürokratie braucht." (Kerstin Schweighöfer aus Voorschoten, 26.4.2019)