Frischmuth hat sich nicht von der Schwermut des Stoffes zu Boden ziehen lassen.

Foto: C. Jungwirth

Der neue Roman von Barbara Frischmuth hat eine unverkennbare autobiografische Basis. Seine Hauptfigur Juliane teilt das Geburtsjahr, das brutale Regime der Klosterschule und etliche weitere Lebensumstände mit der Autorin. Juliane heißt sie allerdings erst im Gymnasium, davor wird sie in Teil eins "die Kleine" und in Teil zwei "Juli" genannt. Dass Juliane aber immer wieder auch in den ersten beiden Kapiteln auftaucht, dass also die Erwachsene Szenen reflektiert, das zeigt, wie subtil der Roman "Verschüttete Milch" den Prozess der Erinnerung erzählend vergegenwärtigt.

Die Archäologie der Kindheit geht vor allem von Fotos aus, und daraus entspinnen sich Szenen und Geschichten. Immer wieder wird klar, auf welch schwankendem Boden sie stehen, wie verschieden deutbar Bilder und wie unzuverlässig die Aussagen der Eltern sind; und welche Streiche einem die eigene Erinnerung spielt.

Bunt und vielfältig sind die Erinnerungen, die in diesem Roman entfaltet werden. Dem schmerzlich eingebrannten Bild eines Pferdes, das um sein Leben rennt, weil es weiß, was ein Gewehr bedeutet, folgen viele Szenen der vertrauten Nähe mit Tieren. Doch die Erwachsenen begreifen kaum einmal, was das Kind dabei empfindet, und treten ihm mit einer selbstverständlichen Brutalität in die Seele. Ein komplexes Familienpanorama tut sich auf, zu dem neben Eltern und Geschwistern eine weite Verwandtschaft gehört. Eltern – da wird es schon schwierig, denn "Paps" ist ihr Stiefvater, der leibliche Vater hat seine Tochter kaum gesehen, bevor er im Krieg umgekommen ist. Oder war er gar nicht der leibliche Vater? Auch da melden sich anhand der Fotos Zweifel. Und Geschwister – unvergesslich das Sterben des Halbbruders an seinem ersten Lebenstag.

Blicke auf die Gesellschaft

Der Roman besticht aber nicht nur durch seine Archäologie der Bilder, sondern auch durch eine der Wörter. Es ist einzigartig, mit welcher erzähltechnischen Raffinesse das dialektale Wortmaterial der Kindheit präsent gesetzt und wie die unvermeidliche Erklärung – oft mit Ironie – auf jeweils andere Weise in das Erzählen integriert wird. Das Problem, das Peter Henisch einmal so auf den Punkt gebracht hat: Wenn er als österreichischer Autor in seinen Romanen Dialoge einbaut, so sprechen die Protagonisten eigentlich eine Kunst- oder Fremdsprache – in Barbara Frischmuths "Verschüttete Milch" ist es auf graziöse Weise gelöst. Und zwar so, dass damit gleich auch viele Details der damaligen Lebenswelt und der Unterschied zur heutigen zur Sprache kommen.

Das ist überhaupt eine der größten Stärken dieses Romans: dass er nicht nur intime Blicke auf eine Kindheit entwirft, sondern immer wieder das Gesellschaftliche und Politische noch im Privatesten durchscheinen lässt. Im Ort am See wimmelt es bis 1945 von Nazibonzen, danach von Besatzungssoldaten und Evakuierten; Widerstand und jene "Pflichterfüllung", die noch Kurt Waldheims dümmliche Phraseologie widerspiegelte, begegnen einander auf engem Raum; die Nachkriegskindheit wird bis in die Details von Wohnen, Essen, Kleidung und (meist fehlender) Heizung ausgeleuchtet; der völlig andere – respektlose und sie in ihrer Psyche und ihrem Denken nicht ernst nehmende – Umgang mit Kindern kommt auf die Bühne; aber auch die Veränderungen im Tourismus werden von der ersten Seite an in Einzelheiten sichtbar. Oder, ein kleines Meisterstück: die Typologie der Kinderfrauen, von denen es damals noch so viele gab. Immer wieder blitzen Fragmente des Prozesses auf, in dem ein Kind Sexualität begreift, die von den Erwachsenen ebenso tabuisiert war wie alle Vorgänge rund um die Geburt (der Storch lässt grüßen); auch der Missbrauch des Mädchens durch eine Frau wird ins Bild gerückt.

Komplex und einfach

Bewundernswert ist, wie sich die vielen Miniaturgeschichten zu einer Kindheitserzählung fügen, ohne dass die Fugen dazwischen zugekleistert werden oder sich alles in eine falsche Eindeutigkeit auflöst. Und immer wieder hält der Blick auf die Fotos den Erinnerungsprozess wach. Dabei wird auch die verschüttete Milch – die vergessenen oder verdrängten Erinnerungen – thematisiert.

Komplexität und Einfachheit, Reflexion und Unmittelbarkeit gehen in diesem Roman Hand in Hand und schaffen ein eindrückliches Leseerlebnis. Der zeitliche Rahmen ist gut gewählt: von den ersten freigeschaufelten Erinnerungen bis zur ersten klaren Entscheidung der Vierzehnjährigen über das eigene Leben, nicht in die Hotelfachschule (zu der sie im Familienkontext gedrängt wurde) und nicht zurück ins Internat zu gehen. Barbara Frischmuth hat sich nicht von der Schwerkraft des Stoffes zu Boden ziehen lassen – die größte Gefahr bei autobiografisch grundiertem Schreiben -, sondern ist auch in diesem Roman eine große, souveräne Erzählerin mit vielen Registern. (Cornelius Hell, 27.4.2019)