Richard Schuberth: "Ich muss dem Bettler, der Bettlerin mit einer fein austarierten Balance zwischen Neutralität und Solidarität begegnen."

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Es war vor etwa zehn Jahren. Drei Romafrauen bettelten vor der Technischen Universität am Karlsplatz. Bei Studierenden, zumal zu Beginn ihres Studiums, mag das Verhältnis von geringen finanziellen Mitteln und sozialem Mitgefühl noch in jenem Ungleichgewicht sein, das man gemeinhin Menschlichkeit nennt. Je weniger jemand hat, desto mehr gibt er. Hat er gar nichts, muss er selbst die Hand ausstrecken, nach der öffentlichen Hand, bei Freunden, Verwandten oder am Arbeitsmarkt, um auch Lohnarbeit zu verrichten, zu der er nicht qualifiziert ist.

Die drei Bettlerinnen waren Spezialistinnen der Marketingpsychologie; mit Falkenblick scannten sie Passanten nach Freigiebigkeit ab. Der langhaarige Student mit Nickelbrille und Retroledertasche passte perfekt ins Profil. Doch bissen sie bei ihm auf den Granit der Weichherzigkeit. Er sagte weder Ja noch Nein, sondern stahl ihnen wertvolle Erwerbszeit mit Rechtfertigungen. Es tue ihm unendlich leid, beteuerte er, liebend gerne würde er ihnen geben, doch sei er selbst nur ein armer Student ... Die erfahrene Anführerin des Kleeblattes beendete sein Gejammere mit den Worten: "Warum du studieren? Geh arbeiten!"

Auf dem Weg zur Sisyphosarbeit

Völlig richtig. Er hätte ja auch betteln gehen können. Kein Mensch von Vernunft kann das Betteln in der Hierarchie des gesellschaftlichen Wertes von Erwerbsarbeit auf die unteren Ränge verweisen. Erstens bettelt ein jeder von uns: um Anerkennung, darum, den Job behalten zu dürfen, darum, aus der imaginären Gemeinschaft, die Gesellschaft eben nicht ist, nicht ausgeschlossen zu werden, durch Wohlgefallen, Konformität und Selbstoptimierung. Und zweitens werdet ihr doch nicht ernsthaft glauben, dass der soziale und ökologische Nutzen eurer Berufe – so ihr nicht so sinnvolle Professionen wie Ärztin, Krankenpfleger, Müllarbeiter oder Gesellschaftskritikerin gewählt habt – eure Überheblichkeit gegenüber den Bettlern in nur irgendeiner Weise rechtfertigt.

Ihr da, die ihr in der morgendlichen U-Bahn angewidert die Blicke von ihnen wendet! Du da, der du in der Herstellung von giftigem Einweggebinde deinen Unterhalt bestreitest, und neben dir die AMS-Mitarbeiterin auf dem Weg zur Sisyphosarbeit, aus dem sinnlosen Arbeitssystem Gefallene in noch sinnlosere Maßnahmen zu treiben oder ihnen gar die Arbeitslose zu streichen? Dort der Journalist, der den Bildungsauftrag erfüllt, indem er die Hirne der Überflüssigen mit erbaulichem Dreck verkleistert, damit sie sich ja nicht des wahren Zwecks ihres täglichen Trotts bewusst werden, dort drüben die Werbefachfrau, der Programmierer von Kalorienzähler-Apps, der Gabelstapelfahrer, der Äpfel aus Chile lädt, und der Motivationscoach des Berufsbildungsinstituts. Die Füße der verachteten Bettler und Bettlerinnen sollt ihr waschen, die auf die demütigende Robbendressur, die ihr anständige Arbeit zu nennen die Unanständigkeit habt, gleich verzichten und direkt – durch eine klare mit Ja oder Nein zu beantwortende Frage – an eure Köder ranwollen. Ihnen konzediert ihr Würdelosigkeit und führt weiter auf euren Hinterflossen eure Tänzchen für ein paar kleine Fische auf, damit andere weiter die großen genießen.

Die milde Gabe

Ein kluges Argument lehnt die milde Gabe ab, weil sie ein System, das notwendig Armut produziert, stabilisiert, anstatt es zu überwinden. Denn die religiösen Moralsysteme brauchen Bedürftigkeit, um sich an ihr sittlich zu erbauen. Sie gleichen Pfadfindern, die sich darum prügeln, wer die alte Dame über die Kreuzung tragen darf, und ihrer Selbstständigkeit grollen, wenn sie's dann alleine schafft. Oscar Wilde hatte recht, wenn er sagte, dass Altruismus entsittlicht. Denn er festigt eine Hierarchie zwischen mildtätigem Subjekt und zu lebenden Opferstöcken erniedrigten Objekten. Zivilisation, die ihren Namen verdient, ebnet solch Gefälle ein und ermächtigt die Subalternen dadurch, dass sie dieses, so ihr es nicht gänzlich abzuschaffen gelingt, so wenig wie möglich spüren.

Das Argument hat aber einen Haken: Wenn zu wenige Menschen ernsthaft an einer zukünftigen Gesellschaft arbeiten, in der sich Almosen erübrigen, bleibt Mildtätigkeit ein notwendiges Mittel, die schlimmsten Übel der aktuellen zu mildern. Man sollte beides praktizieren: Kritik der mildtätigen Herablassung und praktische Mildtätigkeit. Aber so wie Betteln eine anstrengende, hochspezialisierte Tätigkeit ist, sollte auch beim Geben einiges beachtet werden. Ich, der ich fast nichts habe, gebe nicht oft, aber wenn ich gebe, tu ich es weniger für die Bettelnden selbst als für die Zuseher. Nein, es handelt sich dabei nicht um die Eitelkeit der Heuchler, die Jesus in Matthäus 6:2 tadelt. Dennoch instrumentalisiere auch ich Bettler, und zwar aus didaktischen Gründen.

Ich muss zum Beispiel um jeden Preis verhindern, dass ich die Münze aus der Position moralischer Selbstgerechtigkeit in den Hut werfe, ebenso wie ich zu anbiederndes seliges Lächeln, das nicht dem Bettler, sondern der eigenen Selbstgerechtigkeit gilt, vermeiden muss. Natürlich darf ich diese auch nicht hinter einer kalten, abweisenden Miene verstecken. Ich muss dem Bettler, der Bettlerin mit einer fein austarierten Balance zwischen Neutralität und Solidarität begegnen. Ein Exempel muss ich statuieren für all die Zeugen hier auf ihrem Weg in ihre ehrliche und rechtschaffene Arbeit, die die Bettlerin oder den Straßenmusiker als das genuin Andere zu ihrem Lebensentwurf abwerten, der eben kein Entwurf ist, sondern ein Geworfensein, und das nicht in irgendeinem windig-existenzialistischen Sinn, sondern im Sinne, dass kaum jemand der sich hier besser Dünkenden seine Verwertung wirklich ausgesucht hat.

Betteln als Profession

Meine ethische Aufgabe liegt also darin, den Bettler, die Bettlerin mit derselben Höflichkeit zu behandeln wie den Eisverkäufer, die Supermarktkassiererin, kurzum: seine Tätigkeit als Profession ernst zu nehmen. Ihm wohldosierten Respekt zu bekunden, denn sein Job ist voller Risiken, schließlich ist er permanent von Straßenräubern höherer Ordnung bedroht, dem uniformierten Arm des Gesetzes, der ihm die Tageslosung zu jeder Tageszeit abzunehmen bereit ist.

Wohl dem, der sich des Schwachen annimmt!, heißt es im Psalm 41,1-2 des David. Ich erwidere: Wohl dem, der dem Schwachen nicht seine Stärke aufdrängt, sondern die eigene Schwäche in ihm erkennt. So schwingt in der Verachtung für den Bettler, der ja nichts tut, als steuerfrei Brosamen unserer sinnlosen Arbeit abzufordern, auch die Frustration mit, dass er seine freie Zeit damit zubringt, von den Früchten unserer gestohlenen Zeit zu naschen. Der Bettler gemahnt uns an die Lüge unserer Wahlfreiheit; das Gift unseres Geizes ist das Ferment der Unzufriedenheit darüber, mit Monatslohn das geraubte Leben entgolten zu bekommen.

Wenn ich dem Bruder Bettler, der Schwester Bettlerin auf gleicher Augenhöhe begegne, bedeutet das nicht das heuchlerische Verdrängen meiner Privilegien. Und dass sie an einem Tag mehr verdienen mögen als ich in einer Woche, tut auch nichts zur Sache. Umso besser, dann weiß ich wenigstens, bei welch geschickten Lebenskünstlern ich in die Lehre zu gehen habe, sobald ich selbst die Miete nicht mehr blechen kann. Meine Gabe ist der Kredit auf eine Zweckallianz, denn als kritischer, prekär lebender Intellektueller ohne Lobby bin ich wie viele Humanistinnen, Linke, Langzeitarbeitslose selbst auf der noch imaginären Liste derer, die weggemacht gehören, sobald die kollektive Selbstreinigung von den Anderen beginnt. An Fremden und Asylwerbern können wir den Probelauf künftiger Selektionen tagtäglich beobachten.

Anzahlung aufs eigene Überleben

Der Bettler – die Blicke der U-Bahn-Benutzer lügen nicht – muss weggemacht werden. Die Erklärung, dass die Satten die Hungrigen abwehren, weil sie an den eigenen sozialen Abstieg erinnern, hat einiges für sich. Doch mit der Wegweisung durch die Polizei, über die Grenze oder in ein Lager, erweist man den gerade noch Satten nicht bloß das Service der Verdrängung ihrer eigenen sukzessiven Pauperisierung. Zu rational noch ist die Verdrängungsthese. Denn die sadistischen Impulse der unschuldigen Mehrheit, das seid ihr, kennen keine Ratio außer der ihrer Entfesselung. Nur zu gut wisst ihr oder spürt zumindest, wie böse und sinnlos das gesamte Gefüge ist und wie wenig euch vom Bettler, der Bettlerin trennt. Eben darum und nur darum muss dieser, muss diese weggemacht werden. Ihr U-Bahn-Benutzer auf dem Weg zur Arbeit wisst genau, dass ihr die Bettler von morgen sein werdet und sein könntet. An den Schwächeren werdet ihr Rache nehmen dafür, was man euch selbst antut, wenn der Sammelruf zum großen Reinemachen erschallt. Und am Bettler ahndet ihr nicht allein eure eigene Bettlernatur, die Verachtung seiner Armut ist auch Vorwand dafür, dass er dem Bild des freien Unternehmers eher entspricht als ihr, weshalb zum vogelfreien Unternehmer ihr ihn machen wollt. Die Eliminierung der Randständigen und Anderen ist nichts als der notwendige, uralte und tausendfach analysierte Reflex eurer Normopathie, das unausrottbare psychische Bedürfnis, mit den Körpern der Anderen die eigene Unfreiheit auszurotten. Es passt zwar nicht zur Ideologie unserer Werte, aber so wie wir wissen, wie verderblich Aludosen sind und wir trotzdem einmal noch Energydrinkparty feiern und morgen dann für immer darauf verzichten wollen, brauchen wir zur pathologischen Eigentherapie noch dieses eine letzte Massaker, einen letzten – bitte, bitte – klitzekleinen Genozid, damit wir morgen ganz von vorne anfangen und endlich die guten Menschen sein können, die wir von Anfang an doch gewesen wären, hätten uns diese störenden Ambivalenzen und Eindringlinge die Idylle nicht verdorben. Versprochen.

Ich weiß, dass ich in den Romaghettos des Ostens, in den Dörfern und Sperrgebieten, bei den Verdammten und Aussätzigen mehr Menschlichkeit erwarten darf als von den sich barbarisierenden Vertretern der Wertegemeinschaft, sobald ich selbst die Hand ausstrecken muss, sobald morgens an meine Tür gebumpert wird. Deshalb gebe ich. Ich habe kein Mitleid mit dem Bettler, der Bettlerin, ich leiste bloß eine Anzahlung auf mein eigenes Überleben, erkaufe mir einen möglichen Fluchtweg. Gebt, so wird euch gegeben. (Richard Schuberth, 27.4.2019)