Zusammen mit Partner Ashley Hans Scheirl schmückt Jakob Lena Knebl derzeit das Wiener Rathaus.

Foto: Christian Benesch

Zwei rote Riesen schmücken derzeit das Baugerüst vor dem Wiener Rathausturm. Auf dem Transparent trägt der stämmigere Titan den schmäleren auf den Schultern, sodass sie gemeinsam fast 70 Meter hoch sind. Hinter der Kunstaktion steckt das Künstlerpaar Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl. Für ihre Turmverhüllung schlüpften sie in hautenge Ganzkörperanzüge, die auch ihre Gesichter verdecken. Diese sogenannten "Morphsuits" lassen kaum erkennen, ob es sich um Männlein oder Weiblein handelt.

Dem queeren Duo ist am Rathaus eine Landmark gelungen, die zu 100 Jahre Rotes Wien ebenso passt wie zum Life Ball und zum Europride- Festival Anfang Juni.

Auch international sind die Transgender-Künstlerinnen gefragt: Scheirl war 2017 als einzige heimische Position auf der Documenta 14 vertreten; Knebl stellt demnächst in Galerien in London und Paris aus, und im Herbst nehmen die beiden an der Kunstbiennale Lyon teil.

Queer seit zehn Jahren

Noch nie waren Queerness und Transgender so sichtbar wie heute. Seit gut zehn Jahren tauchen in Filmen, TV-Serien, Mode- und Popwelt Charaktere und Personen auf, deren empfundenes Geschlecht nicht ihrem biologischen entspricht. Diskriminierung und Gewalt sind zwar nach wie vor Alltag, aber kulturell hat sich der Umgang mit Trans-Identitäten weitgehend "normalisiert". Vor allem das Internet trug dazu bei, sei es als Plattform für Selfies und Communitys oder als Infoquelle über medizinische und kosmetische Möglichkeiten.

In der bildenden Kunst sind Travestie und Rollenspiel seit dem Surrealismus ein heißes Thema. Um 1968 vollzog sich ein Wandel in der Sichtweise: Damals feierte Andy Warhol Dragqueens wie Candy Darling als Musen und holte sie vor die Kamera. Waren transsexuelle Prostituierte oder Performer in den Fifties für die Fotografin Diane Arbus noch arme Outsider, so erschienen sie in Nan Goldins Fotoporträts um 1990 als Avantgarde.

Rund um Identitätsfragen

Aber auch die Kunstwelt brauchte lange, um den Unterschied zwischen performativem Gender-Switch und Transgeschlechtlichkeit zu berücksichtigen. Während queere Kunst eher um sexuelles Begehren kreist, fokussiert Transgender-Kunst mehr auf Identitätsfragen. Eine zentrale Frage lautet dabei: Geschlecht angleichen oder die Differenz starkmachen? So hielt etwa die britisch-israelische Künstlerin Yishay Garbasz in ihrer Fotoserie Becoming ihre Verwandlung vom Mann zur Frau fest.

Der in Wien lebende US-Künstler Francis Ruyter beschloss erst mit Ende vierzig, dass er nicht länger "Lisa" sein wollte. "In meiner Vorstellung ist meine Biografie die eines Mannes", schrieb er letztes Jahr in einer Rundmail. Derzeit präsentiert Ruyter im Kunstraum Franz Josefs Kai 3 eine Schau, in der er frühe und neue Gemälde kombiniert. Wiewohl er sich ausgiebig mit Genderfragen beschäftigt hat, ist das an seiner semi-figurativen Malerei nicht abzulesen. Im Mittelpunkt steht der Zusammenhang von Technologie und Repräsentation. "Wie wir Bilder sehen, hat sich durch das Internet grundlegend verändert", ist der Künstler überzeugt.

Künstler mit Bart

Vor einer Reihe von Selbstporträts, die Ruyter 1993 geschaffen hat, fällt der Unterschied zu heute ins Auge. Durch Testosteron ist sein Gesicht kantiger geworden, und ihm sprießt der Bart. Wiewohl der Künstler schon zur Studienzeit in der New Yorker Schwulenszene unterwegs war, hielten ihn seine religiöse Erziehung und die Aids-Krise um 1990 davon ab, sich das Fremd-im-eigenen-Körper-Gefühl voll einzugestehen.

Auf die Frage nach spannender Trans-Kunst lobt Ruyter die Schau Trigger: Gender as a Tool and a Weapon, die 2018 in New York lief. Das New Museum zeigte darin auch Transgender-Künstlerinnen unterschiedlicher Generationen wie die legendäre Performerin Vaginal Davis und die aktuell gehypte Videokünstlerin Wu Tsang. Die Geburtsjahre 1968 und 1982 der beiden Amerikanerinnen liegen nicht so weit auseinander, aber ihre Kunst traf auf verschiedene Welten.

Vom Rathausturm auf den Ring

"Für die Punks war ich zu schwul und für die Schwulen zu sehr Punk", schildert Vaginal Davis in einem Youtube-Video ihr Dilemma als schwarze Musikerin Ende der 1980er. Später produzierte Davis schrille Low-Budget-Filme mit absurdem Humor, die selbst bei Homo-Filmfestivals lange Zeit abgelehnt wurden. Im Gegensatz dazu erntete die Transkünstlerin Wu Tsang schon mit ihrem Debüt Wildness 2012 Applaus. Wu siedelte ihr magisch-realistisches Video in einer Latino-Drag-Bar in Los Angeles an, in der sie jahrelang queere Clubbings veranstaltet hat.

Auch in Wien wird bald tanzend geschlechtliche Vielfalt gefeiert, wenn bei der Europride-Parade am 15. Juni tausende Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender die Ringstraße in Beschlag nehmen.

Viele werden es den roten Rathausgiganten gleichtun, ihre Freunde schultern und so in reaktionären Zeiten für mehr Freiheit und Toleranz einstehen. (Nicole Scheyerer, 27.4.2019)