Ehrlich und gnädig: Autor Gunther Geltinger.

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Gunther Geltinger, "Benzin". € 24,70 / 378 Seiten. Suhrkamp-Verlag, 2019

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"In kaum einer Minderheit", schreibt Gunther Geltinger, in der Mitte seines 380 Seiten langen Romans, "herrschen solch strenge Hierarchien wie unter homosexuellen Männern." Um die geht es in Benzin, der wortstarken, welthaltigen Geschichte, in der Alexander und Vinzenz – ein schwules Ehepaar aus Deutschland – das südliche Afrika bereisen. Benzin beschreibt ihre Liebe – oder das, was davon übrig ist. Eine Langzeitbeziehung ist in der Midlifecrisis und versucht einen Neubeginn.

Der von dem Paar auf einer nächtlich dunklen Straße angefahrene, schwarze Mann wird zum tragischen Symbolbild für die Sehnsucht und Lust der beiden, vom Weg abzukommen. Das alles verhandelt dieses Buch, aber noch viel mehr: In einer waghalsigen und doppelbödigen Romankonstruktion erzählt Geltinger nicht nur einen Afrika-Trip. Er schildert auch Verwerfungen, die eine ständige Verfüg- und Konsumierbarkeit von Sex und Abenteuer mit sich bringen, und rückt das Smartphone als digitalen Brenn-, Dreh- und Angelpunkt immer wieder ins Zentrum des modernen Geschehens.

Monstrosität des Tourismus

Das Buch offenbart zudem die Monstrosität von Tourismus und die Tragik des Reisens, das keine Chance mehr bietet, Erfahrungen zu machen. Alexander und Vinzenz wollen es anders machen. Unami heißt der Mann aus Simbabwe, der durch den Unfall, der vielleicht gar keiner war, in das Beziehungsgeflecht der beiden eindringt – oder geraten sie in seines? Vor ihm geben sie sich im homophoben Afrika zunächst als Brüder aus. Es geht schnell um Vertrauen, Verrat und Vorurteile.

Vinzenz ist seit Kindheitstagen von Wasserfällen besessen. Das weiß Unami zu nutzen. Es geht also um "Fallen", die das Leben stellt, und ums "Fallen" im Sinne von scheitern. Benzin ist aber auch ein politischer Roman über Korruption, Gewaltsysteme, Verfolgung, HIV und Migration. Geltinger betreibt dabei als fürsorglicher Erzähler keine Schwarz-Weiß-Malerei, weder für seine Protagonisten aus der Wohlstandsgesellschaft noch für den afrikanischen Kontinent.

Kritik und Wahrheitssuche

Allerdings übt der Autor jede Menge Kritik: an der Autorenschaft an sich, die ihr Umfeld für Geschichten benutzt, an einer ungerechten Gesellschaft, an den politischen Systemen und auch an schwulen Lebensgewohnheiten. Geltinger ist ein literarischer Wahrheitssucher, ohne auf letztgültigen Wahrheiten zu bestehen, da solche Wahrheiten in den Konstellationen, die Geltinger für Benzin gebaut hat, gar nicht zu finden wären.

Diesem Romanplot in seiner Komplexität zu folgen fühlt sich stellenweise so anstrengend an, wie der gewaltige Afrika-Trip, den Geltinger beschreibt, es für die Protagonisten selbst sein muss. Der Autor wandert in den Geschichten vor und zurück, blickt in die Vergangenheit und in die Zukunft, unterschlägt Informationen und offenbart Unbekanntes. Er verschiebt also ständig die Fallkanten der Erkenntnis.

"Sie treten morgens vor den Spiegel", schreibt Vinzenz, der Dichter ist, in einem seiner früheren Romane, "und sagen: Oh Gott!, und haben es bis heute nicht geschafft, den Wandstrahler so anzubringen, dass er ein gnädiges Licht auf sie wirft." Der Schriftsteller Gunther Geltinger kann beides: schonungslos ehrlich und gnädig. (Mia Eidlhuber, 27.4.2019)