Populisten imaginieren die Einheit des Volkes und tendieren dazu, die Politik über die demokratische Gewaltenteilung zu stellen. Soziologe Georg Vobruba erläutert im Gastkommentar die Logik des Populismus.

Populismus ist unvermeidbar. Populismus ist die Sehnsucht nach einfachen Lösungen angesichts komplexer, undurchsichtiger gesellschaftlicher Verhältnisse. Man hat kaum noch etwas unter Kontrolle – ein breit geteiltes Lebensgefühl. Verführerisch tröstlich wirkt da das populistische Versprechen.

Populismus folgt der Logik persönlicher Beziehungen: Entscheidend ist der Wille der Beteiligten. Für die richtige Politik braucht es darum nur die richtigen Absichten. Und wenn etwas schiefläuft, stecken dahinter böse Absichten. Populisten haben eine Schwäche für Verschwörungstheorien.

Populismus bietet Scheinlösungen

Einfache Lösungen mag es in Einzelfällen geben, im Normalfall aber bietet populistische Politik Scheinlösungen. Den Versprechen des Populismus glauben nicht nur Teile des Publikums. Viele populistische Politiker handeln wohl in ehrlicher Überzeugung. Sie sind eher authentisch schlicht als zynisch. Sie glauben wirklich, dass Flüchtlingsströme von George Soros dirigiert werden, dass man hohe Gemüsepreise mit Geldstrafen senken und Sexualdelikte durch Strafverschärfungen verhindern kann. Aber Authentizität macht die Sache nicht besser, im Gegenteil.

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Ungarische Anti-EU-Kampagne mit George Soros und Jean-Claude Juncker auf einem Plakat, gesehen Mitte März in Budapest.
Foto: REUTERS/Bernadett Szabo

Die Konstruktion "Volk"

"Populistisch" ist keine Bezeichnung für diese oder jene Politikinhalte. Populismus ist eine spezielle Vorstellung davon, wie die politische Willensbildung stattfindet. In der Logik des Populismus findet Politik in einer direkten Beziehung zwischen politischer Spitze und Wählerschaft statt. Konsequent verspricht Marine Le Pens Rassemblement National "une véritable révolution de la proximité". Der Populist weiß, was die Leute wollen, und handelt in ihrem unmittelbaren Auftrag.

Diese unmittelbare Beziehung ist eine Fiktion mit realen Folgen. Sie erfordert die Konstruktion eines einheitlichen Gegenübers der populistischen Politik. Es ist die Konstruktion "Volk", die das Trügerische in der Einfachheit des Populismus ausmacht. Denn das Volk als einheitliches Ganzes gibt es nicht. Die Leute haben die unterschiedlichsten Weltanschauungen, Vorlieben, Sorgen und Interessen. Populisten haben wenig Neigung und Talent, zwischen solchen unterschiedlichen Positionen zu vermitteln. Kompromisse sind nicht das Ihre.

In der Logik des Populismus sind die unterschiedlichen Interessen und Wünsche in der Gesellschaft eher eine Art Speisekarte, aus der man geeignete Anknüpfungspunkte für die eigene Politik wählt. Manche Wünsche eignen sich dafür sehr gut, andere überhaupt nicht. Insofern ist der Populismus als Ordnungsvorstellung politischer Willensbildung inhaltlich selektiv. Ihm liegen Antipluralismus, Einschränkung der Gewaltenteilung, Wissenschaftsskepsis, Antitransnationalismus. Daraus folgt: Linker Populismus funktioniert nicht. Wenn Linke die populistische Logik adoptieren, rutschen sie nach rechts aus.

"Dem Volk die Macht": Marine Le Pen bei einer Wahlkampfveranstaltung zur Europawahl.
Foto: ReutersChristian Hartmann

Imaginierte Einheit

Da das einheitliche Volk eine Fiktion ist, kann der Populist seinen politischen Auftrag nicht vom Volk erhalten. Tatsächlich läuft es andersrum. Der Populist projiziert erst seine politischen Vorstellungen in die Fiktion "Volk", um sich dann zur Legitimation seiner Politik auf dieses Volk zu berufen. Der Populist imaginiert die Einheit des Volkes und sich selbst als dessen exklusiven Repräsentanten. Dass dies ein tragendes Element des Populismus ist, erkennt man an der Begründung, mit der Viktor Orbán als Oppositionspolitiker Parlamentssitzungen fernblieb: Das Volk könne nicht gegen sich selbst opponieren.

Wo sich die Fiktion des einheitlichen Volkes an der Vielfalt der Werte und Interessen in der Gesellschaft stößt, ist Antipluralismus die logische Konsequenz. Wer in die Fiktion der Einheitlichkeit nicht passt, wird abgedrängt, ausgeschlossen. Dieser Logik folgend bezeichnete der türkische Präsident Tayyip Erdoğan im Kommunalwahlkampf 2019 diejenigen, welche die "Volksallianz" zwischen der ultranationalen MHP und seiner islamisch konservativen AKP unterstützen, als "treue, vaterlandsliebende Menschen". Jene, die dem oppositionellen "Bündnis der Nation" folgen, sind in seinen Augen "Unterstützer einer terroristischen Vereinigung". Diese Unterscheidung ist in der Logik des Populismus zwingend: Neben dem Anspruch, den authentischen Willen des Volkes zu vertreten, haben abweichende Willensäußerungen weder Platz noch Sinn. Wer sich gegen den Volkswillen stellt, schließt sich aus dem Volk aus.

Einer der Köpfe der Brexit-Bewegung: Nigel Farage.
Foto: APA/AFP/ANDY BUCHANAN

Skepsis gegenüber Institutionen und Instanzen

Der Handlungsspielraum der Politik wird in der Logik des Populismus als im Prinzip sehr weit imaginiert. Konsequenz davon ist die Tendenz, Politik über die demokratische Gewaltenteilung zu stellen. Ebenso zwingend ist, dass Beschränkungen des politischen Handlungsspielraums von innen und von außen bekämpft werden.

Nach innen richtet sich populistische Politik gegen alle Institutionen und Instanzen, die der unmittelbaren Beziehung zwischen populistischer Spitze und "Volk" im Wege stehen. Also gegen alle Instanzen, die zwischen den Interessen der Leute und der Spitzenpolitik vermitteln, der Politik Rahmenbedingungen setzen oder Politik kontrollieren. Darum ist wenig Platz für Interessenverbände, die Autonomie von Notenbanken und Gerichten, unabhängiges Expertenwissen und kritischen Journalismus. Darum versucht Erdoğan die Notenbank zu gängeln. Darum nennt Donald Trump kritische Medien und Gerichte "enemy of the people". Daher kommen die Versuche der PiS-Regierung, die Rechtsprechung unter politische Kontrolle zu bringen. Darum schürt populistische Politik Wissenschaftsskepsis, etwa beim Thema Klimaerwärmung.

Kehrseite der Skepsis gegenüber allen Vermittlungs- und Kontrollinstanzen der Politik ist die populistische Präferenz für Bierzelte, und – moderner – Social-Media-Kommunikation. Die Attraktivität Letzterer leuchtet in der Logik des Populismus unmittelbar ein: Social Media simulieren eine unvermittelte Beziehung zwischen der Politik und den Leuten.

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Nennt Medien und Gerichte "Feinde" des Volkes: US-Präsident Donald Trump.
Foto: REUTERS/Carlos Barria

Die Souveränitätsillusion

Nach außen führt die Logik des Populismus zu der Illusion nationalstaatlicher Souveränität. Je nach weltpolitischer Machtposition läuft die Souveränitätsillusion auf die Nichtanerkennung internationaler Institutionen und auf ein taktisches Verhältnis zu Vertragstreue oder aber auf politischen Isolationismus samt dem Risiko kollektiver Verarmung hinaus. Großbritannien hat die außer Rand und Band geratene Souveränitätsrhetorik in den Brexit geführt. "Taking back control" war der Slogan der Brexit-Kampagne, mit dem der Wunsch nach Befreiung aus unübersichtlichen transnationalen Zusammenhängen in Politik umgemünzt wurde. Dem stand kein Verständnis des Nutzens dieser Zusammenhänge gegenüber. Keine andere populistische Scheinlösung richtet gegenwärtig auch nur annähernd solchen Schaden an. Schließlich wird populistische Politik gegen transnationale Zusammenhänge durch die Konstruktion äußerer Feinde abgesichert. Erdoğan, angesichts rasch steigender Gemüsepreise in Bedrängnis, demonstriert, wie interne Probleme mit der Konstruktion äußerer Feinde verbunden werden können: "Konzentriert euch auf Preise für Kugeln und nicht für Tomaten."

Die Türkei kämpft mit einem Währungsverfall, Präsident Erdoğans Appelle zur patriotischen Stützung der Lira verstärken bloß die Flucht in Euro und Dollar.
Illustration: Michael Murschetz

Populismus – ein Teufelskreis

Populismus hat Drogenwirkung. Populistische Politik, die sich mit einfachen Lösungen über komplexe Zusammenhänge hinwegzusetzen versucht, bleibt wirkungslos oder macht die Sache schlimmer: Einfuhrzölle können nicht verhindern, dass das Defizit der US-Handelsbilanz weiter steigt. Politische Appelle zur patriotischen Stützung der türkischen Lira verstärken die Flucht in Euro und Dollar. In der Logik des Populismus wird darauf mit mehr von demselben reagiert; also höhere Zölle, leidenschaftlichere Appelle. Aus solchen Teufelskreisen gibt es kaum ein Entkommen. Expertenwissen zu berücksichtigen würde den Ausbruch aus der Logik des Populismus bedeuten. Aber das ist authentischen Populisten suspekt. Sie sehen sich ja wirklich in einer direkten Beziehung zum ganzen "Volk", und ihre Überzeugung, in dessen Auftrag zu handeln, ist echt. Mit zynischen Populisten, welche die Fallstricke der Logik des Populismus reflektieren, kann man reden. Aber wie kann man authentischen Populisten raushelfen? (Georg Vobruba, 26.4.2019)