Wühlt erzählerisch in den Schätzen, die Ignaz Kirchner hinterlassen hat: Joachim Meyerhoff in "Land in Sicht".

Foto: Georg Soulek

Sich selbst bezeichnete Burgschauspieler Ignaz Kirchner (1946–2018) ganz ohne Scheu als "Verrückten". Benützer der Wiener Innenstadtbezirke begegneten ihm gelegentlich: eine Aufmerksamkeit erregende Erscheinung in Schwarz und (ein wenig) Rot. Kirchner war ein Artist auf dem Hochseil. Ein backenmahlender Kauz, der – im Verein mit Kollegen wie Gert Voss oder Joachim Meyerhoff – die Welträtsel genüsslich abschmeckte. Es ist billig und recht, dass die Wiener Burg ihm posthum huldigt.

Ein anderes, ebenso unerklärliches Genie, eben Meyerhoff, hat Kirchner jetzt einen Altar errichtet. Die Feuermauer des Wiener Akademietheaters gleicht zum Ende der Hommage Land in Sicht einer Urnenwand. In jeder Nische prangt ein Glühlicht. Auf jedem Sims steht ein chinesisches Notizbuch: schwarz und in den Ecken rot. In diese Sammelkladden klebte der Schauspieler alles, was Illustrierte und der Weltgeist ihm unablässig zutrugen: Frauen in Unterwäsche; Köpfe der Mächtigen der Welt, ebenso Abbildungen von Kriegsgräueln. Selbstporträts, die ihn als dickes Kind zeigen; und immer wieder: den toten Dichter Robert Walser, ausruhend im wärmenden Schnee.

Vier Kisten voller Bücher

Rund 280 solcher Bücher soll Kirchner vollgeklebt haben. Die Beschriftungen werfen neue Rätsel auf. Joachim Meyerhoff aber ist um kein erhellendes Wort verlegen. Er tut, was er bereits mit Hilfe seiner autobiografischen Schriften ausgiebig trainiert hat: Er spricht zum Schein aus dem Stegreif. Er bekundet in Anekdoten seine Nähe zum teuren Toten.

Er weiß hinter sich vier Kisten voller Klebebücher. Er hat in Gestalt seiner Kollegen Fabian Krüger und Mirco Kreibich zudem das trostloseste Heimwerkerduo der Welt zugeteilt bekommen. Zwei, die mit kirchturmhohen Holzlatten fuhrwerken. Zwei Besessene der Zerstörung, die an der Hydraulikleiter scheitern. Die oben am Lichtgalgen hängen: Opfer im Fangeisen der Technik. Beckett-Clowns, die Kirchner entzückt hätten. Dennoch renommiert der viel zu lange Abend mit Proben einer Intimität, die einen nichts angeht. Meyerhoffs Garderobentratsch fügt dem Bild, das man von Kirchner gewinnen durfte, nichts Bedenkenswertes hinzu. Er mästet bloß den Stolz des Erzählers.

Schrullen und Obsessionen

Man sieht – in der Diashow des zweiten Teils – ein kunterbuntes Durcheinander. Es handelt sich um Schrullen und Obsessionen, die den Darstellungskünsten Kirchners Energie zugeführt haben: Erotika und Kuriosa einer Welt, um deren Einrichtung es nicht unbedingt gut bestellt ist.

Man begreift, dass Kirchner mit der Marotte der Travestie sympathisierte, um der eigenen Haut zu entrinnen. Man empfindet nach, was jemand erleidet, der sich selbst ungeliebt fühlt und darum die Idole der Kulturindustrie mit größter Begierde betrachtet. Was dem Abend trotz langer Musikblöcke und eines Intermezzos mit Fahrradfahrern abgeht: ein Gefühl für Scham. Wohnt doch die Schamhaftigkeit jedem Akt der Entblößung inne. Und so erzählt Land in Sicht vor allem viel über die Eitelkeit des Nachlassverwalters (Meyerhoff) und erstaunlich wenig über das Ingenium des wahren Genies: Ignaz Kirchner. (Ronald Pohl, 28.4.2019)