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Marode Firmen fit zu machen, bevor sie in die Insolvenz schlittern, ist das Ziel der neuen EU-Richtlinie.

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Die Liste erfolgreicher außergerichtlicher Unternehmenssanierungen ist ebenso lang wie vertraulich. Abseits der breiten Öffentlichkeit werden jedes Jahr Unternehmen in allen Größenordnungen stabilisiert, restrukturiert und nachhaltig saniert, ohne den beschwerlichen Weg und das Stigma eines gerichtlichen Insolvenzverfahrens beschreiten zu müssen. In der Praxis kann dabei auf etablierte – wenn auch rechtlich unverbindliche – Grundsätze für außergerichtliche Restrukturierung zurückgegriffen werden.

Das Europäische Parlament hat nun den finalen Text einer Richtlinie verabschiedet, mit der erstmals rechtliche Rahmenbedingungen für präventive Restrukturierungen geschaffen werden. Ansatzpunkt ist das Vorliegen einer "wahrscheinlichen Insolvenz" – ein Begriff, der von den Mitgliedstaaten selbst definiert werden kann, aber zeitlich vor den in Österreich geltenden Insolvenzeröffnungsgründen (auch jenem der "drohenden Insolvenz") liegt. Die formelle Annahme durch den Rat der EU wird in Kürze erwartet. Die Richtlinie ist von den Mitgliedstaaten binnen zwei Jahren nach Inkrafttreten in nationales Recht umzusetzen.

Die Mehrheit entscheidet

Herzstück der präventiven Restrukturierung nach der neuen Richtlinie ist der zwischen Schuldner und Gläubigern ausverhandelte Restrukturierungsplan, in dem die notwendigen Maßnahmen zur Sanierung des schuldnerischen Unternehmens vertraglich vereinbart werden. Der Kreativität sind hier kaum Grenzen gesetzt. Was in einer Restrukturierungsvereinbarung vereinbart werden kann, kann auch Inhalt des Restrukturierungsplans werden. Flankierend sieht die Richtlinie die Möglichkeit einer Aussetzung von Einzelvollstreckungsmaßnahmen und Insolvenzantragspflichten vor, um dem Unternehmen den notwendigen Schutz vor andrängenden Gläubigern zu geben. Sogar anfechtungsfeste Zwischen- und Neufinanzierungen sollen ermöglicht werden.

Bisher waren außergerichtliche Restrukturierungen in der Regel nur mit Zustimmung aller Gläubiger möglich. Künftig wird es ausreichen, wenn eine definierte Mehrheit der Gläubiger für die Annahme des Restrukturierungsplans stimmt. Eine Blockade von außergerichtlichen Sanierungsbemühungen durch einzelne Gläubiger soll dadurch weitgehend unterbunden werden.

Bei der Festlegung der Mehrheiten haben die Mitgliedstaaten Spielraum. Sie können ein Zustimmungsquorum von bis zu 75 Prozent pro Gläubigerklasse vorsehen. Werden betroffene Gläubiger überstimmt, bedarf es einer gerichtlichen Bestätigung des Restrukturierungsplans; dabei ist inhaltlich im Wesentlichen zu prüfen, ob der überstimmte Gläubiger durch den Restrukturierungsplan schlechtergestellt wird als etwa im Fall einer Insolvenz. Das führt zwar wieder zu einer Einbindung der Gerichte. Allerdings wird in der Praxis wohl schon oft die Drohung, überstimmt werden zu können, ausreichen, um einvernehmliche Lösungen zu ermöglichen. Jedenfalls ist kein Insolvenzverfahren mehr notwendig, um den "Akkordstörer" zu überstimmen.

Crux mit der Anerkennung

Nicht explizit geregelt ist die Anerkennung von präventiven Restrukturierungen in anderen Mitgliedstaaten. Sollten die Mitgliedstaaten letztlich eine Anerkennung im Rahmen der EU-Insolvenzverordnung anstreben, müssten präventive Restrukturierungen – wie auch Insolvenzverfahren – in öffentlichen Registern veröffentlicht werden. Damit wären präventive Restrukturierungen öffentlich, und der entscheidende Vorteil außergerichtlicher Restrukturierungen würde entfallen. Eine (umstrittene) Alternative wäre eine Anerkennung als gerichtliche Entscheidung nach den Bestimmungen der Brüssel-Ia-Verordnung. Dann würden nur jene Gläubiger von der präventiven Restrukturierung erfahren, die auch wirklich betroffen sind; eine rechtlich völlig ausreichende Öffentlichkeit.

Restrukturierungstourismus

Die Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung mit mehr als siebzig Öffnungsklauseln weiten Spielraum. Bisher war Großbritannien aufgrund der dort verfügbaren flexiblen Entschuldungsverfahren beliebtes Ziel des Restrukturierungstourismus. Im Zuge des Brexits und der neuen Richtlinie kündigen bereits erste Mitgliedstaaten wie die Niederlande besonders flexible sowie praxistaugliche Restrukturierungsrahmen an und werben so für ihren Wirtschaftsstandort.

Aufbauend auf bisherigen praktischen Erfahrungen wäre es wünschenswert, wenn der österreichische Gesetzgeber den Umsetzungsspielraum der Richtlinie kreativ nutzt, um den Wirtschaftsstandort Österreich durch einen innovativen und kompetitiven präventiven Restrukturierungsrahmen zu stärken. Notwendig ist ein gänzlich neues Restrukturierungsgesetz, das zeitlich möglichst früh ansetzt und die Öffentlichkeit sowie die Mitwirkung der Gerichte auf das notwendige Minimum beschränkt. Dazu muss man sich von der Vorstellung verabschieden, altbewährte insolvenzrechtliche Konzepte seien auch die Antworten für die Zukunft. Denn die Richtlinie ist vieles, aber Insolvenzrecht im bisherigen Verständnis ist sie nicht. (Wolfgang Höller, Philipp Wetter, 29.4.2019)