Berlin/Brüssel – Die EU unternimmt nach Überzeugung der Organisation Lobbycontrol zu wenig gegen den Einfluss von Konzernen. Es fehlten wirksame Regeln, um den Einfluss von Konzernen über Expertengruppen, unausgewogene Lobbytreffen oder informelle Kanäle zu begrenzen, heißt es in dem am Montag veröffentlichten "Lobbyreport".

Zwar habe Brüssel bei der Lobbytransparenz und der Begrenzung von Interessenkonflikten Fortschritte gemacht, die Macht der Konzerne sei aber eindeutig zu groß. "Teilweise können sie Gesetze und politische Prozesse regelrecht kapern", sagt die politische Geschäftsführerin von Lobbycontrol, Imke Dierßen. Eine zentrale Rolle für einseitige Lobbyeinflüsse spielten die EU-Staaten.

Schwere Vorwürfe

"Über den intransparenten Rat der EU boxen nationale Regierungen immer wieder die Interessen ihrer heimischen Industrien durch", heißt es in dem Bericht. "Die deutsche Bundesregierung verwässerte oder verzögerte zum Beispiel wirksame Abgastests oder bessere Regeln beim Kampf gegen Steuervermeidung und -hinterziehung."

Europa lasse es zu, "dass Konzerne und Reiche ihr Vermögen in Schattenfinanzplätze verschieben und sich dadurch ihrer Steuerverantwortung entziehen". Durch Steuervermeidung und -optimierung entgingen den EU-Ländern jedes Jahr 50 bis 70 Milliarden Euro an Steuereinnahmen. "Das ist fünf- bis sechsmal so viel, wie die EU pro Jahr für Forschung und Bildung ausgibt", sagt Dierßen.

Als zentrale Faktoren für die Macht der Konzerne in Brüssel nennt der Bericht das Anwerben von Politikern als Lobbyisten, die Abhängigkeit der EU-Bürokratie von Unternehmensexpertise oder privilegierte Zugänge durch Exklusivveranstaltungen.

Zwei Drittel Lobbyisten

"Konzerne können zur Durchsetzung ihrer Interessen auf eine unglaubliche Lobbypower zurückgreifen", sagt die Autorin des Berichts, Nina Katzemich. "Zwei Drittel der 25.000 Lobbyisten, die mit einem Jahresbudget von 1,5 Milliarden Euro Gesetze, Politik und öffentliche Meinung in Europa beeinflussen, vertreten Unternehmensinteressen."

Die EU-Kommission halte rund 70 Prozent ihrer Lobbytreffen mit Unternehmensvertretern ab, wie eine aktuelle Auswertung von Lobbycontrol zeigt. "Diese Einseitigkeit ist problematisch und widerspricht dem Versprechen von Kommissionspräsident Juncker zu Beginn seiner Amtszeit, für mehr Ausgewogenheit sorgen zu wollen", sagt Katzemich.

Auch in anderen Bereichen bestehe ein Missverhältnis. So bestehe die Expertengruppe "Emissionen im praktischen Fahrbetrieb – leichte Nutzfahrzeuge" zu 70 Prozent aus Vertretern der Autoindustrie. Laut Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments zum Dieselskandal hat diese Gruppe unter anderem dazu beigetragen, ein effektiveres Testverfahren für den Schadstoffausstoß von Fahrzeugen um Jahre zu verzögern.

"Europa könnte ein Schutzschild gegen Konzernmacht sein", sagt Dierßen. Als Beispiel für "positive Impulse" nennt sie die Datenschutzgrundverordnung, EU-Gesetze wie die Katalysatorpflicht oder Regeln zur Begrenzung von Schadstoffemissionen. (APA, AFP, 29.4.2019)