Foto: AFP / Safin Hamed

Eine Kehrtwende oder nur die "Klärung" eines Missverständnisses? Der höchste spirituelle Rat der religiösen Minderheit der Jesiden im Irak hat am Sonntag eine neue Erklärung herausgegeben, was den Status der Kinder von aus den Händen des "Islamischen Staats" (IS) befreiten jesidischen Frauen anbelangt. Die Enttäuschung bei Menschenrechtsaktivisten ist groß – gleichzeitig werden jedoch Medien der Falschinterpretation des ersten Statements beschuldigt, auch von der jesidischen Führung selbst.

Darin hatte es geheißen, dass die jesidische Gemeinschaft "die Rückkehr aller IS-Überlebenden" akzeptieren werde, denn "was ihnen widerfahren" sei, sei "außerhalb ihres Willens gelegen" einzuschätzen. Das wurde dahingehend verstanden, dass auch die von IS-Kämpfern bei Vergewaltigungen gezeugten Kinder in die jesidische Gemeinschaft aufgenommen würden. Die zweite Erklärung widerspricht dem: Es seien stets nur jene Kinder gemeint gewesen, "die von jesidischen Eltern geboren und während der Invasion von Sinjar am 3. August 2014 entführt wurden".

Frauen in Lalish im Nordirak, wo sich das zentrale Heiligtum der Jesiden befindet. Mitte April feierten die Jesiden Neujahr und damit die Ankunft des Lichts in der Welt.
Foto: AFP / Safin Hamed

Dahinter versteckt sich eine große Tragödie für die vom IS verschleppten und vergewaltigten Frauen, die erst nach der Befreiung der letzten größeren territorialen IS-Hochburg Baghouz im ostsyrischen Euphrattal Ende März eine größere Öffentlichkeit bekam. Damals berichtete die Reporterin Jane Arraf (NPR) von der syrisch-irakischen Grenze, dass jesidische Mütter ihre in der Gefangenschaft geborenen Kleinkinder zurücklassen mussten: Diese waren in ihren Herkunftsfamilien nicht willkommen.

Aber bei weitem nicht alle Mütter waren dazu bereit, sich von ihren Kindern zu trennen: Viele blieben daher mit ihren Kindern in den Flüchtlingslagern in Syrien zurück. Für diese Frauen brachte die erste Erklärung des religiösen Rats große Hoffnung, auch wenn Ratsvertreter kurz danach klarstellten, dass die Kinder muslimischer Väter nie Jesiden werden könnten, sondern als Muslime angesehen würden. Das entspricht auch dem irakischen Gesetz, nach dem der Vater die Religionszugehörigkeit weitergibt.

Druck der Konservativen

Am Sonntag kam dann eine weitere Klarstellung, die jesidische Frauen, die ihre Kinder nicht aufgeben, jeder Hoffnung auf Heimkehr beraubt. Rudaw zitiert den Chef der jesidischen NGO Yazda, Murad Ismael, der meint, der höchste religiöse Rat habe der "Opposition einiger Fraktionen der Gemeinschaft, inklusive jesidischer politischer Parteien, religiösen Führern, Stammesführern und Gemeindevertretern" nachgegeben. Anders als später behauptet, seien in der ersten Erklärung die Kinder von IS-Vätern sehr wohl enthalten gewesen. Die vage Sprache erkläre sich durch den sensiblen Inhalt, der aber genau so, wie er interpretiert wurde, gemeint gewesen war. Aber die Konservativen setzten sich durch.

Stieß die prinzipielle Aufnahmebereitschaft für diese Kinder intern bei Konservativen auf Ablehnung, so ist nun vor allem laut öffentliche Kritik zu hören. Auch die NGO Yazda, die sich um ehemalige IS-Gefangene kümmert, zeigte sich "betrübt". Man werde die Entscheidung des Rates jedoch respektieren.

"Väter" aus der ganzen Welt

Die jesidische Nobelpreisträgerin Nadia Murad meldete sich ebenfalls zu Wort. Ohne den Rat direkt zu kritisieren, forderte sie, die Entscheidung den Müttern und ihren Familien zu überlassen. Die Kinder, die aus Vergewaltigungen durch IS-Kämpfer stammen, seien aber auch eine "internationale humanitäre" Angelegenheit. Tatsächlich kamen ja die IS-Kämpfer aus aller Herren Länder, auch aus europäischen. Aktivisten rufen die internationale Gemeinschaft auf, betroffene Jesidinnen aufzunehmen.

Auch in sozialen Medien ist die Reaktion auf die "harte und historische Entscheidung" (Nadia Murad) des Rates zum Teil sehr negativ: Das Überleben der Jesiden sei deren Führern weniger wichtig als die Reinheit ihres Blutes, heißt es da etwa. Manche nennen es einen schlechten Einstand für die neue spirituelle Führung. Der Emir oder Prinz der jesidischen Gemeinschaft, Tahsin Said Beg, jahrzehntelang Führer der Gemeinschaft, war im Jänner in Deutschland gestorben.

3000 werden noch vermisst

Das Schicksal von fast 3000 Jesiden und Jesidinnen, von etwa 6500 vom IS 2014 verschleppten, ist weiter unklar. Die Öffnung von Massengräbern in der Region ist im Gange. Vor dieser Heimsuchung wurde in der jesidischen Tradition von "72 Fermanen" gesprochen: Dass das Wort, das eigentlich Sultansdekret bedeutet, als Synonym für "Pogrom" benützt wird, ist ein Hinweis auf die regelmäßigen Verfolgungen der Jesiden unter den Osmanen.

Unter Saddam Hussein wiederum teilten sie das Schicksal der Kurden, die verfolgt und zwangsumgesiedelt wurden. Und nach dem Sturz Saddams 2003 stieg der religiöse Extremismus, der sich 2007 in Anschlägen auf zwei Dörfer mit mehr als 500 Toten niederschlug. Dass der IS oft von "ganz normalen Muslimen" unterstützt wurde, bedeutete einen weiteren Zusammenbruch des Vertrauens. Viele wollen auswandern. (Gudrun Harrer, 30.4.2019)