Igor Levit: "Europa ist auch, was in Italien mit den Rettungsbooten passiert. Europa ist auch die Libyen-Politik."

Foto: Robbie Lawrence

Er ist nicht nur einer der interessantesten Pianisten unserer Zeit, sondern auch ein politisch engagierter Mensch. Über welche zwei Schwerpunktthemen möchte Igor Levit mit dem STANDARD sprechen? Der 32-Jährige entscheidet sich für "Europa" und "Pianisten". Aber gern.

STANDARD: Sie haben 2018 beim Bundesparteitag der deutschen Grünen Beethovens "Ode an die Freude" gespielt, die Europahymne. Dann haben Sie gemeint: "Ich mag dieses Europa sehr, aber ich sehe es auch kritisch." Was gefällt Ihnen konkret an der Europäischen Union und was nicht?

Levit: Ich schätzte die Tatsache, dass Generationen vor mir nach der dunkelsten Dunkelheit des Zweiten Weltkriegs ein Miteinander geschaffen haben, in dem ich ohne Angst vor Krieg aufwachen konnte und kann. Ich wüsste nicht, ob ich ohne diese Ruhe und Stabilität Musik machen könnte. Auf der Habenseite steht auch die Reisefreiheit. Europa ist aber auch das Geflüchtetenlager von Idomeni. Europa ist auch, was in Italien mit den Rettungsbooten passiert. Europa ist auch die Libyenpolitik, ist Austeritätspolitik. Zur Wahrung des Bankenwesens wurden Länder ausgeblutet.

STANDARD: Wie könnte man die EU verbessern? Müsste man die Institutionen reformieren? Das EU-Parlament stärken?

Levit: Ja. Der Reformierungs- und Demokratisierungsprozess ist auf vielen Ebenen zu betreiben. Und dann gibt es noch das, was man in Amerika als "the power behind power" bezeichnet, die Lobbyisten der Großkonzerne. Da sollte man auch etwas tun. Was mich zuletzt auf die Palme gebracht hat: Da macht der französische Präsident Macron einen Reformvorschlag, und die Vorsitzende der CDU, Frau Kramp-Karrenbauer, verfasst einen Antwortbrief, der nur ignorant ist und jede Diskussion darüber abwürgt. Das ist schon irre. Wobei Angela Merkel auf seine erste Initiative ja auch lange nicht reagiert hat.

STANDARD: Ist auch der Euro ein mangelhaftes Konstrukt, das zu reformieren wäre? Der Exporteuropameister Deutschland profitiert davon, weil der Euro die Produkte im Vergleich zu D-Mark-Zeiten verbilligt. Die wirtschaftlich schwachen Südländer leiden darunter, dass sie keine eigene Währung haben, die sie abwerten können. Müsste da nicht die "Transferunion" Ausgleich schaffen?

Levit: Absolut! In Deutschland muss man aufhören, Legenden zu verbreiten, dass wir die Südländer finanzieren würden. Das Gegenteil ist der Fall: Wir haben ihnen Geld gegeben, damit unsere Banken nicht bankrottgehen!

STANDARD: In Interviews von Ihnen ist eine Botschaft meist zentral: Engagiert euch!

Levit: Wenn ich mit klugen Menschen im Ausland rede, in Amerika oder anderen Ländern, dann sagen die, dass ihnen angst und bange ist, weil Europa so apathisch ist. Es gibt ein politisches Schlafwandlertum hier. Andererseits verändern sich auch Dinge. Eine Million Menschen waren in London auf der Straße, um gegen den Brexit zu demonstrieren.

STANDARD: Kommen wir zu den Pianisten. Haben Sie aufgrund Ihrer regen Konzertkonzerttätigkeit die Gelegenheit, sich Konzerte von Kollegen anzuhören?

Levit: Klar. Und das hat auch mein eigenes Spiel sehr beeinflusst! Ich habe noch vor wenigen Jahren mit starkem körperlichem Einsatz gespielt – im Glauben, damit ein intensiveres Resultat zu erreichen. Dann habe ich aber bei anderen erlebt, dass man auch mit minimalem Einsatz Erschütterungen auslösen kann. Fred Hersch ist ein Idol für mich. Er ist einer der bedeutendsten Pianisten, er ist für mich der Meister des Ausatmens. Krystian Zimerman fesselt mich seit längerem. Seine letzte Schubert-CD war für mich ein Knock-out.

STANDARD: Manche Pianisten, auch Altersgenossen von Ihnen, sind wahnsinnig virtuos im Umgang mit den 88 Tasten des Klaviers, aber sie wirken deutlich ungelenker im Umgang mit Menschen. Diagnose: Weltfremdheit durch übermäßiges Üben. Macht einen das Interesse an der Welt und ihrem Getriebe Ihrer Erfahrung nach auch zu einem besseren Pianisten?

Levit: Ich glaube zweifelsfrei: ja. Ich will aber niemanden zu irgendetwas zwingen, jeder hat seine eigene Wahrheit. Was ich nicht verstehen kann: Jedes Kunstwerk ist ja ein Akt der Reflexion über die Welt da draußen. Dass man auf diese Welthaltigkeit verzichten kann, ist mir ein Rätsel. Ich glaube, dass jeder, der die Welt aufsaugt, nur gewinnen kann. (Stefan Ender, 1.5.2019)