Polens Regierung liegt zwar immer wieder im Clinch mit Brüssel, die Bevölkerung aber steht der EU mehrheitlich positiv gegenüber.

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"Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Diesen Satz soll Michail Gorbatschow, der letzte Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, im Oktober 1989 gesagt haben. Und zwar in Ostberlin, bei den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR.

Über den genauen Wortlaut des Zitats herrscht Unklarheit, Tonaufnahmen sind angeblich nicht überliefert. Dafür ist der Hintergrund der Aussage umso eindeutiger: Gorbatschow stieß die kommunistische Führung der DDR mit der Nase auf eine Entwicklung, die diese partout nicht sehen wollte: auf den Reformgeist, den er selbst entfacht hatte, und dem er nun, in Ostberlin, einmal mehr zum Durchbruch verhalf.

1989, es war das europäische Annus mirabilis: das Jahr, in dem die kommunistischen Diktaturen Mittel- und Osteuropas nacheinander zusammenbrachen, das Jahr, in dem der Eiserne Vorhang zuerst Löcher bekam und schließlich verschwand.

Historische Tragweite

15 Jahre später, am 1. Mai 2004, erfuhr die europäische Nachkriegsentwicklung eine weitere Zäsur: Gleich zehn neue Staaten traten gleichzeitig der Europäischen Union bei. Es war die größte Erweiterung in der Geschichte der EU. Um sich ihre historische Tragweite zu vergegenwärtigen, lohnt vor allem ein Blick auf die acht ostmitteleuropäischen Beitrittsländer von damals: auf Polen, Ungarn und die beiden Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei, allesamt ehemalige kommunistische Diktaturen und Mitglieder des Warschauer Pakts; auf die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, die einst sogar Bestandteil der Sowjetunion waren; und auf Slowenien, das sich bereits auf EU-Kurs befand, als in anderen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien noch blutige Zerfallskriege tobten.

Seit der historischen Osterweiterung sind nun weitere 15 Jahre vergangen. 15 Jahre, in denen verschiedene Krisen und die unausweichlichen Klagen über eine komplizierter gewordene EU oft den Blick aufs Wesentliche verstellt haben: auf die simple Erkenntnis nämlich, dass ehemalige Gegner aus der Zeit des Kalten Krieges heute wie selbstverständlich gemeinsam an den Brüsseler Verhandlungstischen sitzen. Die Europäische Union als Friedensprojekt, sie hat sich auch nach der Erweiterung bewährt.

Mehr Vielfalt, mehr Konflikte

Das bedeutet freilich nicht, dass man die EU zur problemfreien Zone erklären muss. Und natürlich hat auch die Erweiterung Stoff für neue Konflikte gebracht: Mehr Staaten bedeuten mehr Vielfalt, aber auch mehr divergierende Interessen und größeren Redebedarf. Sich aus westlicher Sicht in puncto Moral oder demokratiepolitischer Reife über die neueren Mitgliedstaaten zu erheben, war aber immer schon unangebracht. Immerhin waren es einst deren Völker gewesen, die den Reformgeist genutzt und den Eisernen Vorhang von Osten her zerrissen hatten. Und es waren auch deren Völker, die sich später in Referenden allesamt für den Beitritt zur Europäischen Union aussprachen.

Bei aller zum Teil berechtigten Kritik: Heute sind es etwa längst nicht nur die Gesellschaften osteuropäischer Länder, die von der Furcht vor Zuwanderung geprägt sind. Rechtspopulistische Parteien, die Ängste vor Migranten kanalisieren, ja bisweilen schüren, prägen mittlerweile so gut wie überall in der EU den politischen Diskurs. Auch haben die neueren EU-Mitglieder kein Monopol auf missbräuchliche Verwendung von EU-Fördergeldern, wie es manchmal scheinen mag. Gewiss: Einige spektakuläre Causen aus Ungarn oder – dem erst 2007 beigetretenen – Rumänien haben zuletzt Schlagzeilen gemacht. Die europäische Antibetrugsbehörde Olaf berichtete zuletzt jedoch auch von Fällen aus anderen, älteren EU-Staaten, etwa aus Deutschland oder Italien. Dass nun das neue Amt eines EU-Generalstaatsanwalts geschaffen wird, ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Raum für das Recht

Die nach wie vor unterschiedliche Finanzkraft ist ein weiterer Grund für Unstimmigkeiten zwischen alten und neuen Mitgliedsländern. So hat Österreich kürzlich die Indexierung der Familienbeihilfe beschlossen, sprich die Anpassung einer Sozialleistung an die Kaufkraft im Land des Wohnsitzes. Man muss diesen Schritt nicht gut finden. Man darf ihn auch für diskriminierend halten, wie die Europäische Kommission das tut. Aber entschieden wird die Angelegenheit letztlich vor dem Europäischen Gerichtshof. So wird in der EU Politik gemacht – und letztlich Recht gesprochen.

Auch die Artikel-7-Verfahren gegen Polen und Ungarn wegen Bedenken im Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung mögen langwierig und unerfreulich sein. Letztlich zeigen aber auch sie, dass in der EU Entscheidungen eben nicht übers Knie gebrochen werden. Wer Brüssel da oder dort Schwerfälligkeit attestiert, sollte auch in Betracht ziehen, dass dies impliziter Teil des jahrzehntealten Erfolgsrezeptes zum Ausgleich von Interessen und letztlich zur Wahrung des Friedens ist.

Die Mühen der Ebene

Dass all dies auch zwischen ehemaligen Kontrahenten aus der Zeit der bipolaren Welt möglich ist, ist das Verdienst der europäischen Integration und der Osterweiterung der EU. Heute tagtäglich die Mühen der politischen Ebene bewältigen zu müssen, ist weitaus besser, als mit dem Erbe geopolitischer Perspektivlosigkeit zu leben. Hätte 2004 der Mut zur Erweiterung gefehlt, Europa hätte seine fortdauernde Teilung riskiert. Mag sein, dass deshalb nicht gleich ein neuer Eiserner Vorhang oder gar ein gewaltsamer Konflikt entstanden wäre. Doch die ostmitteleuropäischen Staaten hätten bei der gemeinsamen Gestaltung des Kontinents weiterhin nur die zweite Geige gespielt – mit dem Risiko, sich in der Rolle einer innerlich zerrissenen Pufferzone zwischen West und Ost wiederzufinden. Die Erweiterung vor 15 Jahren hat uns dieses Szenario erspart. (Gerald Schubert, 1.5.2019)