Der Mann, der Russlands Potentaten im Internet das Fürchten lehrt, auf Twitter ein Millionenpublikum mit beißendem Sarkasmus bedient und dem beschwerlichen Alltag in Wladimir Putins Russland auch auf der anonymen Kurznachrichtenplattform Telegram zu Leibe rückt, ist 27 Jahre alt, kommt aus dem Nordkaukasus und sitzt im Rollstuhl.

"Ich will mein Leben nicht in einem Krankenhaus verbringen. Ob ich ein Jahr kürzer oder länger lebe, ist mir egal", sagt Alexander Gorbunow, der unlängst erstmals aus dem Schatten seines Pseudonyms "StalinGulag" getreten ist – um seine Familie zu schützen, wie er erklärt. Spinale Muskelatrophie, unaufhaltsamer Muskelschwund, lautet die Diagnose, wie lange er noch zu leben hat, weiß Gorbunow nicht. Medikamente, die sein Leben verlängern, lehnt der Blogger ab. Ihm geht es um das Hier und Jetzt: Weil die russischen Behörden zu Beginn der Woche die Wohnung seiner Mutter durchsucht haben, entschloss "StalinGulag" sich, der BBC ein ausführliches Interview zu geben.

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Nicht sehr erfreut: Russlands Präsident Wladimir Putin.
Foto: AP Photo/Alexander Zemlianichenko

"Man kann nicht still sein, während in Russland verrückte Dinge passieren", sagt er dem britischen Sender. Jüngstes Beispiel: der Besuch des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un in Wladiwostok. Er diente Gorbunow als Bühne für seinen beißenden Spott: "Kim Jong-uns Limousine ist in Wladiwostok eingetroffen. Sie wurde von Pjöngjang mit einer II-76-Transportmaschine geliefert. Um dem nordkoreanischen Diktator das Reisen in seiner Limousine zu ermöglichen, wurde im Bahnhof Wladiwostok eine Mauer abgerissen. Alltag in einer Supermacht."

2013 begann Gorbunow, damals noch zu Hause in der Kaukasusstadt Machatschkala, auf Twitter zu bloggen. Von langer Hand geplant habe er das nicht. Vielmehr sei sein Blog ein "Unfall" gewesen. Weil ihm langweilig war und er schreiben wollte, wie er sagt. Viel mehr hätte einer wie er, an den Rollstuhl gefesselt, auch nicht tun können dort. "Mein Computer und das Internet bedeuteten, dass ich verfolgen konnte, was auf der Welt passiert. Ich habe mich immer immer schon für Politik interessiert." Bald richtete der Blogger auf dem von einem Russen entwickelten Nachrichtendienst Telegram eine virtuelle Filiale ein. Dort, an einem der wenigen Orte also, wo Russen unmoderiert – weil anonym – über Politik diskutieren können, wurde er schnell zu einem Star.

"In Irkuzk beging ein betagter Mann auf der Toilette der städtischen Klinik Selbstmord, weil er es nicht mehr aushielt, auf seine Testergebnisse zu warten. Was für eine unfassbare Scheiße."

Wie er zu seinem bizarren Pseudonym gekommen ist? Als eine Form es Trollens, gibt er zu. Er wolle damit die falschen Parallelen zwischen der Stalin-Zeit und dem modernen Russland aufzeigen. "Die Menschen, die heute an der Macht sind, wollen uns glauben machen, dass sie furchteinflößend sind, so wie einst Stalins Geheimpolizei. Aber so ist es nicht. Im Herzen wollen sie einfach nur Luxus und Geld", konstatiert er.

Angebliche Bombendrohung

Dass das System Putin gleichwohl durchaus in der Lage ist, missliebige Stimmen harsch zu verfolgen, ist aber auch "StalinGulag" bewusst. Als ein regierungstreuer Fernsehsender im vergangenen Jahr erstmals eine Verbindung zwischen dem Twitter-Kanal und dem Namen Alexander Gorbunows zog, stritt dieser alle Verwürfe ab. Erst als die Polizei bei seiner Mutter vorstellig wurde und angab, Gorbunows Handy sei für eine Bombendrohung verwendet worden, änderte der heute in Moskau wohnende Blogger seine Strategie – und ging an die Öffentlichkeit.

Seit in Russland im März ein neues Gesetz die "Verbreitung von Fake-News" verbietet, weht Bloggern wie "StalinGulag" ein noch schärferer Wind ins Gesicht. Dieser will sich davon nicht beeindrucken lassen. Seine Frau und seine Familie, so hofft der Rollstuhlfahrer, leben nun, wo er internationale Berichterstattung erfährt, sicherer. Und er selbst? "Sie können mich nicht einschränken. Ich lebe doch schon mein ganzes Leben mit Einschränkungen." (Florian Niederndorfer, 3.5.2019)