Gerhard Roth,

"Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier". € 25,70 / 423 Seiten. S. Fischer, 2019

Foto: S. Fischer

Emil Lanz lebt in einer Villa auf dem Lido von Venedig. Er arbeitet an einer Übersetzung von Gullivers Reisen. Und wie den Protagonisten des utopisch-satirischen Reiseromans verschlägt es auch ihn zu den sonderbarsten Orten. In dem Vorhaben, seinem ereignislosen und von quälenden Erinnerungen heimgesuchten Leben ein Ende zu setzen, fährt er auf die Insel Torcello und wird hineingerissen in ein wildes Geschehen, in dem er plötzlich nur noch sein Leben retten will.

Mit ähnlicher Fabulierlust wie sein irischer Kollege Jonathan Swift setzt Gerhard Roth im zweiten Teil seines Venedig-Zyklus seinen Protagonisten wilden Verfolgungsjagden, Schießereien und Morden aus. Kreuz und quer über die Lagune geht es dahin, und da Lanz auf seinen überstürzten Fluchten nicht auf den Weg achtet, landet er unerwartet auf Friedhöfen, in Klöstern und anderen geschichtsträchtigen Gemäuern der Inselstadt.

Je mehr die Handlung an Fahrt gewinnt, je abstruser die Verwicklungen werden und je mysteriöser die Figuren, umso deutlicher tritt die Frage hervor, wer dieses seltsam verworrene Geschehen leitet: Wer bestimmt über unsere Handlungen und lenkt die menschlichen Geschicke? Es ist die Suche nach einem vermeintlichen Geheimplan des Lebens, auf die Roth seinen Protagonisten schickt.

Seinen Erzählstrom durchwebt er mit zahlreichen literarischen Bezügen sowie alten rätselhaften Texten. Da ist das chinesische Buch der Wandlungen, in dessen Hexagrammen man die Bewegungen des Kosmos widergespiegelt sah und das als Weisheits- und Orakelbuch Jahrtausende hindurch Bedeutung hatte, das Voynich-Manuskript, dessen Text nicht zu entziffern ist und das bis heute Rätsel aufgibt, und da ist die kryptische Schrift an der Mauer eines aufgelassenen Krankenhauses: "REALITY IS NOT WHAT YOU THINK IT'S AN ANCIND LYNK." A. übersetzt mit den Worten: "Wirklichkeit ist nicht, was du denkst ... Sie ist ein uraltes, zentrales Überwachungssystem ..." In dieser Welt voller Rätsel, geheimer Zeichen, Symbole und verschlüsselter Botschaften, in der alles mit allem verbunden ist und nichts zufällig geschieht, scheinen alle Handlungen einem verborgenen Plan zu folgen.

Unergründliche dunkle Mächte

Es ist eine vorpsychologische Welt, die Roth mit Erfindungsreichtum und inspiriert von mittelalterlichen Darstellungen und Sinnbildern uralter Menschheitsängste in seinem Roman ausbreitet. In der Basilika Santa Maria Assunta auf Torcello lässt er seinen Protagonisten vor dem gewaltigen Goldmosaik des Jüngsten Gerichts das rätselhafte Unsichtbare ahnen: "Während oben riesige Engel mit Blasinstrumenten schwebten, würgten in der Unterwelt Löwen, Tiger, Hyänen und unbekannte Wesen, möglicherweise Fabeltiere, Teile von Menschenkörpern aus ..." Unergründliche dunkle Kräfte sind in dieser Welt am Werk, Ängste und Zwänge steuern das Handeln, nichts bleibt unbeobachtet, und jede Verfehlung muss gesühnt werden. Hunderte gläserne Tier- und Menschenaugen starren Lanz im "Klassenzimmer" der Nachbarvilla an: "Alle diese Augen schienen auf ihn gerichtet zu sein, und aus der Faszination, die von ihnen für Lanz ausging, wurde allmählich Unbehagen und zuletzt Angst. Sie erinnerten ihn an Verhöre, Hypnose und Lügen." Wiederholt kommt Lanz der Gedanke in den Sinn, "er sei für seine Selbstmordabsichten bestraft worden".

Unergründliche Gestalten treiben in der fantastischen, sich traumähnlich vollziehenden Handlung ihr Unwesen. Schon die seltsamen Bewohner der riesigen Villa auf Lanz' Nachbargrundstück geben Rätsel auf: der unheimliche Falkner, der in einem alten Planetarium Falken, Eulen und einen jungen Adler hält, Mister Ashby, der in einem Glashaus die Pflanzen der Bibel züchtet, und der Imker, eine Figur, die bereits in Roths erstem Roman-Zyklus Die Archive des Schweigens auftaucht und die hier als blinder Pfarrer aus Slowenien wiederkehrt.

"Heiter gestimmt"

Besitzer der Villa ist der Milliardär Egon Blanc, von dem niemand sagen kann, wie alt er ist und den Giorgio de Chirico in seinem metaphysischen Gemälde Das Gehirn eines Kindes porträtierte. Studierter Archäologe und allen Wissenschaften gegenüber aufgeschlossen, trägt er in seinem Wissensdrang die Züge eines Universalgelehrten der Neuzeit. Und er ist es auch, der Lanz schließlich den Weg in eine neue Zeit öffnet.

So lichtet sich auf dieser absonderlichen Reise durch Erinnerungen und Träume, rauschhafte Zustände, Unbewusstes und Vorbewusstes – "für einen kurzen Augenblick war er überzeugt, dass er das Reich zwischen Leben und Tod durchwanderte" – für Lanz allmählich der Blick. Er empfindet "mitten im Chaos seines Denkens so etwas wie Glück". Sogar eine neue Liebe findet er, und einen großartigen Auftrag bekommt er: Shakespeare zu übersetzen. "Heiter gestimmt" klemmt er sich Shakespeares Alterswerk, die Komödie Der Sturm, unter den Arm. Ihr ist der Titel entnommen, und sie liefert auch die Folie des Romans, indem sie Menschlichkeit als etwas zeigt, das es durch einen nie endenden Prozess zu erringen gilt. Leiden und tödliche Bedrohung müssen durchschritten werden, um durch Selbstüberwindung ihre Verwirklichung zu erlangen. Lanz ist diesen Weg gegangen. (Ruth Renée Reif, 4.5.2019)