Ballett ist ein Hochleistungssport und erfordert Disziplin. Kunst zwingt zur Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen – seien sie körperlicher oder eher psychischer Natur.

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Viel wurde in den letzten Wochen diskutiert über den Skandal an der Wiener Ballettakademie. Die Kinder sollen blutig gekratzt worden sein, die notfallmedizinische Behandlung nach Unfällen sei mangelhaft, psychologische und ernährungswissenschaftliche Beratung (entgegen internationalen Standards) praktisch nicht vorhanden.

Zur Verteidigung wurden "gute Ergebnisse" angeführt. Die Eltern bezeichneten ihre Kinder als "kleine Heldinnen und Helden". Aber müssen Künstler denn Helden sein? Muss man sich für Schwanensee opfern? Und in welchem Geiste werden eigentlich die darstellenden Künstlerinnen und Künstler ausgebildet, die prägender Teil unseres Lebens sind?

Die Sache mit dem Leid ist das eine. Ballett ist eigentlich Hochleistungssport, da sind die Opfer naturgemäß andere als etwa im Schauspiel. Der Mythos vom leidenden Künstler ist undifferenziert – und genau deshalb so mächtig. Man glaubt ihn gerne, weil er sich deckt mit religiösen, bäuerlichen, kapitalistischen Vorstellungen: Wer sich plagt, wird belohnt. Trotzdem ist er ein Fehlschluss. Menschen, die bedeutende Kunst schaffen, zeichnet vor allem die Fähigkeit aus, das Leben (und damit auch das Leid) zu durchdringen, verwandeln zu können. Dass man einen Menschen nur zu quälen braucht, um ihn zu einem guten Künstler zu machen, ist Humbug.

Handwerk, Talent, Genie

Es ist ja auch nicht jeder, der mit 27 an übermäßigem Drogenkonsum verstirbt, ein großer Musiker. Für Kunst braucht es Handwerk, Talent, vielleicht auch Genie. Das mit dem Leid aber kann man getrost vergessen. Es ist ein Stereotyp, das einem im Zweifelsfall erspart, genauer hinzuschauen.

Natürlich braucht Kunst auch Hingabe, Leidenschaft, Disziplin und, ja, Opfer. Sie zwingt zur Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen – seien sie körperlicher oder eher psychischer Natur. In der darstellenden Kunst, in der man sich auf einer Bühne (oder vermittelt durch einen Bildschirm) dem Publikum stellt, steht immer das ganze Selbst zur Disposition.

Man steht ein mit dem eigenen Körper, der eigenen Person. Man wird konfrontiert mit Erfolg und Verehrung, mit Ablehnung und oft harter Kritik. Das Verständnis für die Schmerzen, die Kränkungen, die das auslöst, ist bei Außenstehenden oft gering – man hat sie ja nicht gezwungen, diesen Beruf zu ergreifen. Nicht jeder Mensch hat die Stärke und Resilienz, um damit aus eigener Kraft fertigzuwerden. Umso wichtiger ist es, Bühnenkünstler dabei zu unterstützen, dafür ihren eigenen Weg zu finden.

Autorität, Hierarchie, Leistung

Wie ihre Ausbildung in der Realität aussieht, lässt sich kaum verallgemeinern. Tänzerinnen und Tänzer beginnen ihre Ausbildung bereits im Kindesalter, mit anderen Bühnenkünsten fängt man in der Regel später an. Spricht man mit einzelnen Schauspielern oder Tänzerinnen, hört man, auch im internationalen Rahmen, von sehr diversen, durchaus auch positiven Erfahrungen: unterschiedliche Methoden, pädagogisch und menschlich mehr oder weniger qualifiziertes Lehrpersonal. Eine Tendenz lässt sich dennoch erkennen. Es geht oft autoritärer, hierarchischer, leistungsorientierter zu als anderswo.

Das zeigt sich in den Narrativen US-amerikanischer Tanzfilme wie Center Stage genauso wie in der Aussage einer ehemaligen Ballettakademie-Schülerin: "Du bist ein guter Schüler, wenn du deine Arbeit leistest, nichts sagst und knickst vor Autoritätspersonen." Genauso wie das Klischee vom leidenden Künstler trügt auch das Bild vom freien, unkonventionellen Artisten-Volk. Tatsächlich ist die Konkurrenz groß, wer sich für diesen Beruf entscheidet, steht massiv unter Druck. Es hängt natürlich von den einzelnen Ausbildungsstätten, den jeweiligen Lehrern und Lehrerinnen ab, was den Klassen vermittelt wird.

Erfolg als Maxime

Allzu oft aber wird das weitergegeben, was man auch selber gelernt hat: Konkurrenzkampf, Härte mit sich und anderen, Erfolg als oberste Maxime. Das hält ein Klima aufrecht, das sich etwa in der #MeToo-Debatte deutlich zeigte. Zahlreiche Schauspielerinnen gaben an, sie hätten sich gegen Übergriffe nicht wehren können – nicht etwa, weil sie an Leib und Leben bedroht waren, sondern weil sie sonst womöglich einen Job nicht bekommen hätten. In weiten Teilen der Öffentlichkeit wurde diese Erklärung als völlig nachvollziehbar hingenommen. Sosehr die Künstler immer noch als die "Anderen" der Gesellschaft wahrgenommen werden, letzten Endes werden sie oft in Einklang mit deren Leistungsideal ausgebildet.

Lebenszufriedenheit, Selbstachtung, Gesundheit und Integrität sind schön – Erfolg ist wichtiger. Bisweilen hat man das Gefühl, dass Kunst, die doch eigentlich Avantgarde sein will, der Gesellschaft sogar noch hinterherhinkt. Das macht sich etwa hinsichtlich der Gleichberechtigung bemerkbar. Regierungen und börsennotierte Unternehmen schaffen es (mit schwankendem Erfolg), über Frauenquoten und gleiche Bezahlung zu reden. Hinter und auf den Bühnen aber ist die Situation triste. Die Gehaltsschere klafft weiter auseinander als im Durchschnitt, der Frauenanteil ist, gerade was die prestigeträchtigen, mächtigen Positionen betrifft, beschämend niedrig. In Deutschland gibt es mittlerweile den Verein Pro Quote Bühne, in Österreich formiert sich eine solche Gruppe gerade. So erfreulich das ist: Viele trauen sich nicht, den Mund aufzumachen – aus Angst, keine Angebote mehr zu kriegen.

Zeitgemäße Ausbildung

Es wird Zeit, darüber nachzudenken, was eine zeitgemäße Ausbildung von Bühnenkünstlern braucht. Klar ließe sich einwenden: Was gehen uns diese Künstler an? Wenn man sie aber nicht nur als Unterhaltungsdienstleister versteht, sondern als einen wichtigen Teil der Gesellschaft, der ihr den Spiegel vorhält, dann ist ihre und die Ausbildung ihrer Lehrerinnen und Lehrer von immenser Bedeutung.

Es ist auch eine Frage danach, was wir für eine Gesellschaft sein wollen. Eine von Menschen, die sich für die Karriere ducken? Die kuschen, wenn der Arbeitgeber oder (wer weiß, was noch alles möglich wird) die eigene Regierung sie einschüchtert? Oder eine solidarische Gesellschaft, die für sich und einander einsteht? Was das neoliberale Konzept der fröhlichen Selbstausbeutung betrifft, ist die Kunst tatsächlich oft Avantgarde. Ihr Nimbus macht die Selbstausbeutung zu einer Heldentat. Was es demgegenüber braucht, ist eine Ausbildung, die diese Herausforderungen wahrnimmt, thematisiert und die Schülerinnen und Schüler bestärkt.

Für Selbstermächtigung

Es geht um Selbstermächtigung, Empowerment. Dass Kinder vor bestimmten Härten der Branche geschützt gehören, sollte sowieso eine Selbstverständlichkeit sein. Aber auch bei erwachsenen Schülerinnen und Schülern reicht es nicht, nur die Technik zu vermitteln. Im Standard empfahlen führende Ballettexperten bereits eine wesentlich umfangreichere Ausbildung. Auch in anderen Disziplinen gehört darüber geredet, was die zukünftigen Künstlerinnen können und wissen müssen. Wenn das bereits passiert, umso besser. Aber Fälle wie jene an der Staatsoper zeigen, dass es durchaus noch Redebedarf gibt.

Darüber, wie man Künstler nicht nur zu herausragenden Handwerkern, sondern auch zu mündigen Persönlichkeiten heranbildet, die selbstbestimmt entscheiden können, wie weit sie für die Kunst gehen wollen – und wo ihre Grenze liegt. Wie man es hinkriegt, dass eine solche Ausbildung nicht mehr vom Glück abhängt, die richtigen Lehrerinnen zu erwischen. Immerhin geht es um die Menschen, die uns am Ende des Tages etwas über uns und die Welt erzählen. Welche Geschichten wollen wir da hören? (Andrea Heinz, 4.5.2019)