Ein kurzer Ruck, überraschend sanft setzt die kleine zweimotorige Propellermaschine der Icelandair auf der einst von der US-Armee angelegten Schotterpiste in Kulusuk auf. Zwei Flugstunden westlich von Reykjavik: Wir sind in Grönland! Und schon sind wir mitten in der grönländischen Realität: Der angekündigte Hubschrauber, der uns in die kaum 15 Minuten entfernte ostgrönländische "Hauptstadt" Tasiilaq bringen soll, der wird heute nicht fliegen.

Berglandschaft im Fjord von Tasiilaq.
foto: thomas neuhold

Wobei "Hauptstadt" ein ziemlich euphemistischer Begriff für das 2.000 Seelen zählende Dorf ist – andererseits leben an der ostgrönländischen Küste insgesamt kaum mehr als 3.500 Menschen. So gesehen, stimmt das mit der "Hauptstadt" wieder. Das in einem geschützten Fjord, 100 Kilometer südlich des Polarkreises liegende Tasiilaq hat immerhin eine satellitengestützte Telefon- und Internetverbindung, ein dänisches Krankenhaus, Kirche, Postamt, Supermarkt, Schule und Kindergarten sowie das seit drei Jahrzehnten von der Südtiroler Bergsteigerlegende Robert Peroni geführte "Red House". Dieses ist Lodge für die wenigen Touristen und soziale Anlaufstelle für die Inuit in einem. Peroni beschäftigt nur Inuit-Jugendliche und bietet somit ein paar der wenigen Jobs im Ort an.

Ein Blick in die Ewigkeit und die menschenleere Weite vom Hausberg Qaqqartivagaajiik: Links im Bild der eisfreie Fjord von Tasiilaq, rechts das geschlossene Packeis hinaus aufs offene Meer.
foto: thomas neuhold

Robert Peroni ist es auch der sich um unser Weiterkommen kümmert. Telefonisch vom Ausbleiben des Hubschraubers informiert, schickt er Tobias los. Der Chef der Jäger und Bootsführer Tasiilaqs soll die kleine österreichisch-bayerische Skibergsteigergruppe abholen. Kein ungefährliches Unterfangen – auch in der wärmeren Jahreszeit. Das kleine Jagdboot hat zwar einen verstärken Rumpf und ist hochmotorisiert, die Eisschollen sind freilich oft meterdick und ihre Lage verändert sich durch die Strömung rasch. Aber es gelingt: Tobias legt an der Eiskante in Kulusuk an, Skier und Gepäck werden ins Boot verladen und es geht im Zick-Zack vorbei an gewaltigen Eisbergen durch das Eismeer retour nach Tasiilaq.

Wo Motorschlitten auf Hundegespann trifft: In Ostgrönland prallen High-Tech und jahrhundertealte Inuit-Kultur oft unmittelbar und hart aufeinander.
foto: thomas neuhold

Hier ist neun Monate Winter und auch im Sommer ist es relativ vegetationslos: Hinter dem Dorf mit dem vielen kleinen bunten Häusern beginnt zwar das Blumental, aber von ein paar Wochen Blütezeit abgesehen, ist es auch hier mit den Pflanzen nicht weit her. Und ringsherum schneebedeckte, vielfach vergletscherte Berge – oft nicht einmal eintausend Meter hoch, aber man geht ja fast direkt vom Meer weg.

Das hochmotorisierte Jagdboot legt gleich unmittelbar an der Eiskante an.
foto: thomas neuhold

Die Versorgung der Bevölkerung hat zwei Standbeine: In den eisfreien Monaten Juni bis September bringen Frachtschiffe Lebensmittel, Baummaterial, Brennstoff und Konsumgüter, die eingelagert werden. Das zweite Standbein ist die Jagd- und die Fischerei. Die Inuit sind von Jagdverboten ausgenommen, neben Robben und Walen darf sogar ein kleines Kontingent Eisbären erlegt werden.

Eisberge – vergängliche Kathedralen aus Gletschereis.
foto: thomas neuhold

Die Jagderfolge der Inuit finden sich dann auch am Speiseplan: Gekochte Robbe, Minkwal und Catfish beispielsweise. Auch der "Kaugummi" Grönlands, die Spezialität Mattak findet sich auf unseren Tellern. Mattak ist rohe Walhaut. Schmeckt besser als es klingt: lange genug gekaut, entwickelt sie einen angenehm nussigen Geschmack.

Ein prüfender Blick: Tobias – Chef der Jäger und Bootsführer von Tasiilaq -checkt die Route durchs Eismeer.
foto: thomas neuhold

Der Tourismus ist hier wirtschaftlich wenig relevant. In der dunklen Winterzeit geht ohnehin nichts und auch im Frühjahr verirren sich nur rund 2.000 Gäste nach Tasiilaq, das übrigens streng genommen wie Kulusuk auf einer Insel – auf Ammassalik – liegt. Wanderer, Skitourengeher, Kulturinteressierte und Leute, die einmal im Leben mit Hundeschlitten durch die Landschaft fahren wollen, kommen hierher. Selten sind auch ein paar Skifahrer dabei, die sich mit einem kleinen Hubschrauber vom nahegelegenen Kulusuk in die Berge fliegen lassen.

Ein rund 200 Jahre alter und etwa fünf Meter langer Grönlandhai wird zerlegt: Jagd und Fischfang sind die wichtigste Einkommensquelle der Inuit.
foto: thomas neuhold

Dass der Tourismus hier nicht Fuß fassen kann, liegt wohl auch an der Erreichbarkeit. Wer nach Tasiilaq reist, sollte sich bewusst sein, dass sich der geplante Rückreisetag schnell einmal eine Woche nach hinten verschieben kann. Einmal geht der Hubschrauber zum Flugfeld nach Kulusuk nicht, dann wieder verhindern Stürme Flüge von Kulusuk nach Island.

Seltener Jagderfolg: Ein Eisbärfell ist aufgespannt.
foto: thomas hafenmair

In Kulusuk gibt es sogar ein eigenes Hotel für hier gestrandete Touristen, denn hier ist die Frequenz dann doch etwas höher: Geschätzt 4.000 fliegen jährlich hierher, nur um einmal einen Fuß auf grönländische Erde gesetzt zu haben. Sie bleiben zwei, drei Stunden und fliegen mit der selben Maschine wieder zurück. Ein kleines Schild im Flughafengelände macht die Form des Tourismus hier deutlich: Es sei verboten, Steine mitzunehmen, steht da zu lesen.

In Salzwasser gekocht: Robbenfleisch ist zentraler Bestandteil der Inuit-Küche.
foto: thomas neuhold

Wer sich aber auf das Abenteuer Ostgrönland einlässt, dem stehen faszinierende Tage in einer weitgehend unberührten Landschaft bevor. Tourenski oder notfalls auch Schneeschuhe sind im Frühjahr die beste Möglichkeit die Gegend zu erkunden. Im Sommer kommt man sogar mit festen Bergschuhen relativ weit.

Eine Delikatesse zum langsam Kauen: Maktaaq oder Mattak ist rohe Walhaut und hat einen leicht nussigen Geschmack.
foto: thomas neuhold

Schon am ersten Skitourentag kommt für unsere kleine österreichisch-bayerische Gruppe die erste Überraschung: Wortlos drückt uns Robert Peroni zwei Gewehre in die Hand: Sollten wir Eisbären begegnen. Der König der Arktis gilt als gefährlich und notfalls muss man ihn sich eben mit einem Warnschuss vom Leib halten. Ein Probeschuss zeigt rasch: Die Dinger sind scharf, wir können beruhigt weitergehen.

Eisbärenschutz: Bewaffnet auf Skitour.
foto: thomas neuhold

Alpinistische Heldentaten wollen wir hier keine verbringen, man muss alles tun, um das Risiko zu senken. Bergrettung oder ähnliches gibt es in den menschenleeren Weiten naturgemäß keine, ein gebrochener Fuß kann hier schnell zu Problem werden.

Auch für abgebrühte Alpinisten und Alpinistinnen ein Erlebnis: Kilometerlange Flachstücke am zugefrorenen Eismeer.
foto: thomas neuhold

Und so geht es gemächlich Tag für Tag auf die umliegenden Gipfel, oder wenn das Wetter nicht mitspielt, auf diverse Vorgipfel. Die Eindrücke sind wichtiger als die Höhenmeterleistung und die Steilheit der Abfahrten. Das Eis schimmert in den vielfältigsten Farben, kilometerlang trotten wir über das zugefrorene Eismeer. Und von den Bergen ringsum fällt immer wieder der Blick auf das kleine Tasiilaq mit seinen, wie aus einem Baukasten gefallenen, hunderten bunten kleinen Häusern. Gleich hinter den letzten Häusern beginnt dann die Weite, das unendlich große Grönland.

Die bunten Häuser von Tasiilaq.
foto: thomas neuhold

Was auffällt: die Sonne ist kräftig und schnell wird es richtig warm. Kaum ziehen Wolken heran und es kommt der schneidend scharfe Wind auf, sind wir froh um Daunenjacke, Kapuze und Thermounterwäsche. Dabei sei es dieses Frühjahr "so warm wie noch nie", erzählt Robert Peroni. Der Fjord vor Tasiilaq ist früher als sonst nahezu eisfrei und wir können nur mit dem Boot zu den gegenüberliegenden Gipfeln. Die geplante Fahrt mit den von robusten Grönlandhunden gezogenen Schlitten über das Eis entfällt.

Holz ist in Ostgrönland selten. In der Kirche von Tasiilaq findet sich dieses aus Schwemmholz geschnitzte Taufbecken.
foto: thomas neuhold

Und wenn das Wetter so gar nicht mitspielt? Das kleine Museum über die Inuit-Kultur in der alten Kirche ist sehenswert und die neue Kirche ist ein architektonisch sehenswerter Sakralbau. Hell, lichtdurchflutet und mit nordischer Zurückhaltung einerseits – viele Elemente der Inuit-Kultur, Jagdszenen, Robben- und Eisbärfelle andererseits. Fast ein Symbolbild der kulturellen Lage der Menschen in Tasiilaq zwischen Satelliten-TV und Robbenjagd.

Im Volksglauben regieren immer noch Geister und Dämonen. Tupilaks werden aus Walrosselfenbein oder Renntierhorn geschnitzt.
foto: thomas neuhold

Und was bringen wir den Daheimgebliebenen mit? Robbenfell und Eisbärkrallen sind laut EU-Bestimmungen tabu. Aber es gibt ja noch die Tupilak-Werkstatt in Tasiilaq. Hier werden in mühevoller Handarbeit jene Geisterfiguren geschnitzt, die den Volksglauben der Menschen prägten. Auf rund 55 Euro kommt so ein kleines Kunstwerk – die Aktivierung durch einen Schamanen nicht inkludiert.

Von einem Schamanen zum Leben erweckt, soll der Tupilak einem Feind Schaden zufügen oder gar den Tod bringen.
foto: thomas neuhold

Unserer Skibergsteigergruppe waren die Geister jedenfalls durchaus wohl gesonnen: Vier Tage Verspätung und eine abenteuerliche Fahrt durchs Eismeer retour von Tasiilaq sind eine für grönländische Verhältnisse vernachlässigbare Verspätung. Das nächste Mal machen wir uns eben gar keine Termine mehr für danach aus. (Thomas Neuhold, 29.5.2019)


Zum Weiterlesen: Ein Volk wird Opfer der Tierschützer und wie es funktioniert, wenn der Hubschrauber nicht nach Tasiilaq fliegt: Kein Gespür für Schnee.

Literatur: Robert Peroni: "Kälte, Wind und Freiheit. Wie die Inuit mich den Sinn des Lebens lehrten." Malik/National Geographic, Oktober 2016, 240 Seiten, 15,50 Euro.

Reiseführer: Sabine Barth, Dumont-Reiseführer "Grönland", 4. Auflage 2017.

Unterkunft, Trekking, Kajak, Expeditionsservice: The Red House

Vortragstermine "Grönland gewaltig – fesselnd – mystisch": Hans Thurner

Reiseanbieter in Österreich: Die Bergspechte

Die Reise erfolgte mit Unterstützung durch den Linzer Reiseanbieter "Die Bergspechte"