Seoul – wo fängt man an? Ich weiß nicht, ob es an Itaewon liegt, dem Bezirk, in welchem wir wohnen, aber obwohl ich mir sehr bewusst darüber bin, dass wir uns gerade in Südkorea befinden, muss ich mich immer wieder erneut davon überzeugen. Liegt es an den unzähligen Caféhäusern, die Elias schon ausgiebig erwähnt hat? Ich versuche es daran festzumachen – so anmaßend das auch klingt – dass mir nicht wirklich etwas Markantes oder Besonderes auffallen will, dass Südkorea von einem anderen Land unterscheiden könnte. Das, was asiatisch anmutet, hält sich sehr dezent in Form von Straßenständen und einigen verstreuten Palastbauten zurück. Das, was an den Westen erinnert, ist die Anwesenheit üblicher Markengeschäften, hippen Lokalen und vor allem eine unverzeihlich hohe Quote an Starbucksfilialen.

Alles im Überfluss

Generell stelle ich fest: Alles, was in Seoul vorkommt, kommt einem sehr geballt entgegen. Es ist nicht ein Café in Sichtweite, es sind immer mindestens vier, es ist nicht ein Kebabstand, sondern drei an jeder Kreuzung, nicht ein Geschäft, das Antiquitäten verkauft, nein, es ist gleich eine ganze Straße voller Antiquitätenläden.

Es gibt auch verhältnismäßig viele Sexshops hier. Zwar toppt dies nicht die beinah überfordernde Präsenz der Vibratoren, die in China im family mart – denken Sie an Berliner Spätis oder dem Okay-Markt am Westbahnhof oder Schottentor, nur nicht so überteuert, dafür ununterbrochen geöffnet und wirklich überall vorhanden – gleich bei der Kassa platziert sind, also da, wo bei uns normalerweise Schokoriegel und Guter Stern zu verlocken versuchen, aber immerhin scheint man auch hier sehr offen mit Sexspielzeug umzugehen.

Sexshop mit veganen Kondomen.
Foto: Jimmy Brainless

Aber natürlich gibt es hier auch andere, kleine Beobachtungen in Seoul, die vergnügt ins Auge hüpfen. Zum Beispiel sind hier die Grünphasen für Fußgeher sehr kurz, gefühlt bleiben einem nur wenige Sekunden die Straße zu überqueren. Ist die Grünphase vorbei, beginnt die Ampel (weiterhin in grün) zu blinken. Wir sind es ja gewohnt, dass nach paar Mal blinken gleich rot ist, in Seoul gibt es aber neben der Ampel noch eine eigene Anzeige, die mit sinkenden Pfeilen anzeigt, wie lange die Blinkphase noch dauert. Anfangs sind Elias und ich immer noch los gesprintet, als wir gesehen haben, dass die Ampel blinkt. Dann haben wir gemerkt, wie lange die Ampel blinkt und uns dasselbe Schlendern beim Überqueren der Straße wie alle anderen angewöhnt.

Eine andere Beobachtung, die ich als nichtpraktizierender Autofahrer für sehr sinnvoll halte, ist, dass bei Tankstellen die Schläuche inklusive Zapfventil von oben kommen. Das heißt, es ist vollkommen egal, wie man zur Zapfsäule fährt, man kann ganz entspannt den Schlauch auf die richtige Seite, nach vorne und nach hinten bewegen und muss nicht umständlich umparken, wenn man bemerkt, dass die Tanköffnung des Autos schon wieder ganz woanders ist, als man gedacht hat.

Duschen ist eine Herausforderung

Wir haben eine sehr nette Airbnb-Unterkunft, kurz möchte ich das Badezimmer beschreiben, da ich es gleichermaßen als unheimlich praktisch und multifunktional, als auch als ziemlich mühsam empfunden habe, darin effektiv Körperhygiene zu betreiben. Das Badezimmer befindet sich nämlich unter einer Treppe, wo man normalerweise das Kämmerlein von Harry Potter vermuten würde. Geht man hinein, steht man sogleich in der Dusche, die vom restlichen Zimmer nicht abgetrennt und das insgesamt nicht größer als zwei Quadratmeter ist. Neben der Toilettenschüssel ist direkt an der Wand eine Waschmaschine, deren Tür sich so aufmachen lässt, dass sie die Öffnung ins Innere der Waschmaschine mehr blockiert als freigibt. Der Duschkopf, der an der Wand hängt, kann über einen kleinen Hebel im Waschbecken aktiviert werden. Wenn man allerdings vergisst, diesen Schalter wieder umzukippen, kann es leicht passieren, dass der nächste, der sich nur die Hände waschen will, eine volle Ladung Wasser ins Gesicht gespritzt bekommt. Außerdem ist der Raum so klein, dass, wenn man auch nur fünf Minuten duscht, sich an der Decke so viel Kondenswasser sammelt und herabtropft, dass das Duschen einfach nicht aufhört. Und weil es ein geteiltes Badezimmer ist, kann man sein Handtuch auch nicht einfach hängen lassen. Wie oft habe mich jetzt schon mit der zuvor noch angezogenen Schmutzwäsche trocknen müssen, weil ich mein Handtuch im Zimmer vergessen habe.

Wollen Sie Menschen beim Essen zuschauen?

Wir leben uns relativ schnell in Itaewon ein. Am zweiten Tag nach unserer Ankunft haben wir ein Radiointerview mit KBS World Radio und spazieren daraufhin nach Gangnam. Unterwegs entdecken wir immer wieder Lokale, die große Flatscreens vor ihren Geschäften aufgestellt haben, worauf Videos von Menschen gezeigt werden, die mit größtem Genuss Speisen essen. Elias erklärt mir, dass es sich dabei um das Internetphänomen Mok-Bang handelt, wo Menschen meist übergroße Portionen von Gerichten unterschiedlichster Restaurants essen und sich dabei filmen, um das Videomaterial daraufhin auf eine Plattform namens Afreeca.tv hochladen. Und das schauen sich dann tatsächlich sehr viele Menschen an. Dieses Phänomen wird oft so erklärt, dass in Südkorea das Schönheitsideal auf beunruhigend sturer Schlankheit beruht und dementsprechend viele Menschen empfindlich darauf bedacht sind, extrem auf ihre Figur zu achten und dadurch ihr Essverhalten radikal beeinflusst wird. Anscheinend stillen die Zuschauerinnen und Zuschauer beim Anschauen der Videos indirekt ihr eigenes Verlangen nach Essen. Das ist schon bisschen schräg, oder? Ich meine, wohin soll das führen? Als nächstes filmen sich die Leute gar noch beim Sex und stellen das online ...

Gangnam – eine Bühne zum Nachtanzen.
Foto: Jimmy Brainless
Vor einem Restaurant: Mok-Bang-Video.
Foto: Jimmy Brainless

Essen ist in Seoul übrigens im Verhältnis zu anderen asiatischen Ländern recht teuer, dafür sind Briefmarken recht billig. Apropos: Wer gerne von uns eine Postkarte aus Taiwan bekommen möchte (da fahren wir nämlich als nächstes hin), der kann uns gerne eine E-Mail mit Adresse schicken, die ersten drei, die sich mit dem Betreff "Postkarte aus Taiwan" melden, dürfen sich über eine handgeschriebene Postkarte von uns freuen.

Hirntote Karotten, U-Bahn-Kitzel

Am nächsten Tag halten wir bei der deutschen Schule Seoul einen Workshop zum Schreiben einer Kurzgeschichte. Wir lassen mehrere Adjektive und Nomen von den Schülerinnen und Schülern auf Zettel notieren, durchmischen und ziehen einige davon, sodass teilweise recht witzige Titel entstehen. Ich bin – selbstverständlich – begeistert von dem Titel "Die hirntote Karotte des Stuhls" und gehe fast fix davon aus, dass die Schülerinnen und Schüler das auch so sehen, aber die Entscheidung fällt überraschenderweise auf "Der spannende Liebesbrief der Katze". Mit viel Humor und Explosionen schreiben sie im Laufe von 45 Minuten wahnsinnig unterhaltsame Texte, einige davon werden auch vorgetragen.

Workshop an der Deutschen Schule Seoul, gezogene Titel.
Foto: Jimmy Brainless

Danach geht es mit einem der Lehrer in eines der Hipster-Lokale, die ich eigentlich vermeiden wollte, es gibt Avocado-Shrimps als Mittagsangebot. Ich nehme das kleinere Übel: Oktopus-Risotto mit beidseitig angewärmtem Toast.

Der Lehrer sagt, dass Koreaner Itaewon nicht besonders mögen. Das mag einerseits daran liegen, dass sie finden, dass es in diesem Bezirk zu schmutzig sei und die Häuser zu niedrig gebaut sind. Andererseits sicher auch, weil es in Kriegszeiten das Rotlichtviertel für amerikanische Soldaten war und das zu Zwangsprostitution von koreanischen Frauen geführt hat. Am liebsten würden die Einheimischen ganz Itaewon abreißen und mit Hochhäusern ersetzen. Des Weiteren erzählt er uns, dass Seoul unfassbar sicher sei. Man könne seinen Laptop in der U-Bahn vergessen und mit gutem Gewissen in der Station gemütlich einen Kaffee – ach was, ruft er, sich selbst unterbrechend, zwei Kaffee gehen sich locker aus – trinken gehen, um dann später, wenn die U-Bahn schon eine Runde gedreht hat, seinen Laptop einfach wieder aus dem Wagon zu holen. Oder wenn grad Essenzeit ist, einmal koreanisches Barbecue würde sich auch ausgehen, sagt er. Dann holt man den Laptop eben erst nach drei Runden wieder ab. Ob wir es probieren wollen, fragt er. Es sei echt einer der harmlosesten Nervenkitzel, die man überhaupt erleben könne. Es sei für Touristen mehr oder minder schon ein Sport geworden, absichtlich ihre Sachen in der U-Bahn zu vergessen und währenddessen etwas anderes zu unternehmen, um sich die Kosten für Schließfächer zu ersparen.

Und was mit den unbenutzten Schließfächern in den Bahnhöfen der Stadt geschehen ist? Man hat jeden einzelnen mit einem kleinen Kaffeeautomaten ausgestattet – da gibt es dann das Espresso-Schließfach und das Caffè-Latte-Schließfach und das Americano-Schließfach und alles floriert, es ist schon direkt unbequem, wie gut das läuft, weil die ganze Stadt so aufgedreht ist. Kein Wunder, dass man Seoul, wie so viele andere Metropolen dieser Erde, als die niemals schlafende Stadt bezeichnet.

Kurze Unterbrechung

Am Nachmittag spazieren wir in der Altstadt von Seoul herum, besichtigen einige Paläste und Gärten, schauen in ein Museum. Es gibt in diesem Stadtteil Geschäfte, die koreanische Tracht verleihen. Offensichtlich sehr erfolgreich, denn überall stehen Touristen in Tracht und lassen sich mit anderen Touristen fotografieren, weil diese aufgrund der Tracht denken, dass es sich um Einheimische in Tracht handelt.

Handy-Fotoshootings in traditioneller Kleidung.
Foto: Jimmy Brainless

Abends spielen wir im I Art Seoul, einem Kunsttreffpunkt, wo unter anderem Bilder und Fotos ausgestellt werden, oder aber auch Poetry-Slam- und Spieleabende stattfinden. Wir spielen ein sehr intimes Konzert für einige Besucherinnen und Besucher, die zufällig über diese Veranstaltung gestolpert sind.

I Art Seoul – Elias Hirschl liest.
Foto: Jimmy Brainless

Koreanischer Absinth?

Anschließend entsteht eine kleine Gesprächsrunde, man spricht über K-Pop, die Suizidrate in Südkorea und ein unwahrscheinlich spannend klingendes Getränk, das nur in einer grünen Flasche erhältlich ist und das brutal besoffen machen soll. Jeder der Anwesenden warnt uns mit einer angsteinflößenden Ernsthaftigkeit, dass wir wirklich, wirklich damit aufpassen sollen. Als sie erfahren, dass wir am nächsten Tag nach Taiwan fliegen, raten sie uns komplett ab, zur grünen Flasche zu greifen. Wenn man nur einmal damit beginnt, dann sollte man für die nächsten drei Tage nichts geplant haben. Alle wirken so, als wären sie von diesem Zeug schon einmal richtig zerstört worden. Ich glaube, so andächtig und angsterfüllt habe ich schon lange niemanden von etwas sprechen hören.

Wir bleiben an diesem Abend bei Bier. Bier ist auf Koreanisch übrigens die Bezeichnung für eine Art Sänfte, die benutzt wird, um die Körper der Verstorbenen zu transportieren. Da wir leben, transportiert uns das Bier nirgendwohin und wir müssen am nächsten Tag das Flugzeug benutzen, um nach Taiwan zu kommen. Taiwan, wir kommen! (Jimmy Brainless, 6.5.2019)

PS: Das mit den Postkarten ist übrigens vollkommen ernst gemeint, also hopp, hopp, traut euch.