Ein BMI von 27 ist mit der besten Lebenserwartung assoziiert. Die Krux an der Sache: Ab einem Wert von 25 beginnt Übergewicht.

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Manchmal geht es ganz schnell: an einem Tag noch kerngesund, am nächsten Tag schon ein Patient, der mit einer Diät abnehmen sollte. So war es im Jahr 1997, als Millionen Menschen quasi über Nacht zu Übergewichtigen erklärt wurden. Die WHO hatte die Werte für den Body-Mass-Index (BMI) weltweit verbindlich festgelegt und verschärft, der Grenzwert für normales Körpergewicht wurde auf 24,9 gesenkt. Bis dahin galt für Frauen ein Wert von 27,2 als unbedenklich, Männer brauchten sich bis 27,7 keine Sorgen zu machen.

Wer vorher noch gesund war, zählte nun zur Risikogruppe für Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Fettleber und Diabetes Typ 2. Ein 1,75 Meter großer Mann musste demnach von 85 auf 76 Kilogramm abnehmen, um wieder in die Gruppe der Normalgewichtigen aufgenommen zu werden. Eine medizinische Rechtfertigung für diesen Schritt gab es nicht, im Gegenteil, wie sich rund 15 Jahre später zeigen sollte. Die US-Epidemiologin Katherine Flegal vom Center for Disease Control and Prevention (CDC) berechnete, dass bei Erwachsenen ein BMI um die 27 mit der höchsten Lebenserwartung assoziiert ist. Am längsten leben demnach jene Menschen, die bis 1997 noch als normalgewichtig eingestuft wurden.

Was die Analyse außerdem ergab: Besonders ältere Menschen profitieren, wenn sie übergewichtig oder leicht adipös sind. Für sie ist ein BMI von 28 mit der besten Lebenserwartung verknüpft. Fettreserven dürften also einen gewissen Überlebensvorteil bieten. Das Risiko, frühzeitig zu versterben, ist hingegen bei einem BMI von unter 20 und extremem Übergewicht am höchsten.

Streit unter Wissenschaftern

"Der Body-Mass-Index hat für die meisten Menschen nur eine sehr begrenzte Aussagekraft. Im Prinzip eignet er sich nur als Risikomarker für unterernährte oder extrem übergewichtige Menschen", sagt Ingrid Mühlhauser, Gesundheitswissenschafterin von der Universität Hamburg. Seit Veröffentlichung der CDC-Studie wurde das Körpergewicht jedenfalls auch unter Wissenschaftern zur Kampfzone erklärt. Im Jahr 2016 legten Forscher der Global BMI Mortality Collaboration (GBMC) eine Metaanalyse von 239 Studien mit fast elf Millionen Probanden vor. Ihr Fazit: Das gesunde Übergewicht sei ein Mythos, tatsächlich haben Menschen mit einem BMI zwischen 22 und 24 den größten Überlebensvorteil.

In einer Stellungnahme, die im Jänner 2019 im Fachmagazin "Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle" erschien, bezeichnen Katherine Flegal und Kollegen die GBMC-Metaanalyse wiederum als methodisch mangelhaft und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen als unzulässig. Sie kritisieren, dass für die neuerliche Auswertung nicht elf Millionen Probanden herangezogen wurden, sondern nur knapp vier Millionen. Die Daten von mehr als 60 Prozent der Teilnehmenden blieben unberücksichtigt. Dazu zählten alle Personen, die jemals geraucht hatten, Menschen mit Krebsdiagnosen, Herz-Kreislauf-Problemen und Lungenerkrankungen sowie Probanden, die innerhalb von fünf Jahren nach Studienbeginn verstorben waren.

Das heißt, der prognostische Wert des BMI wurde nur für gesunde Menschen berechnet. Für diese superfitten Personen lag die höchste Lebenserwartung bei einem BMI im Normalgewichtsbereich zwischen 22 und 24. "Für die restlichen 60 Prozent müsste demnach ein noch höherer Body-Mass-Index als 27 das Gewicht mit der besten Lebenserwartung sein. Allein schon deshalb sollte die Interpretation des BMI neu definiert werden", schlussfolgert Mühlhauser.

Soziales Gewicht

Noch immer dominiert die Meinung, dass Übergewicht und Adipositas selbstverschuldet sind und durch einen Mangel an Bewegung und ungesunde Ernährung ausgelöst werden. Tatsächlich sind die Gründe vielfältig und haben nur selten etwas mit mangelnder Selbstdisziplin zu tun. Neben genetischen Faktoren können auch hormonelle Ursachen ausschlaggebend für übermäßigen Hunger sein.

Der bestimmende Faktor ist allerdings psychosozialer Stress. Das konnte in einer amerikanischen Untersuchung belegt werden. In der Interventionsstudie wurde sehr armen Frauen und ihren Kindern die Möglichkeit gegeben, für mehrere Jahre in eine bessere Wohngegend zu ziehen. Für diese Familien bedeutete das auch: mehr Grünflächen, weniger Kriminalität, bessere nachbarschaftliche Beziehungen. Das Ergebnis: Im Vergleich zur Gruppe, die nicht umgezogen war, sank das Risiko für Adipositas, Bluthochdruck und Diabetes Typ 2 deutlich.

Diäten bringen nichts

"Einer der wichtigsten Risikofaktoren für die Entwicklung von Adipositas ist ein niedriger sozioökonomischer Status", sagt Ingrid Mühlhauser. So sind in Österreich vier von zehn Kindern und Jugendlichen aus einkommensschwachen Familien übergewichtig oder adipös. In wohlhabenden Familien trifft das nur auf etwa zwei von zehn Kindern zu. Laut den Daten der deutschen Gesundheitsstudie haben Frauen mit niedrigem Einkommen eine um acht Jahre geringere Lebenserwartung als Gutverdienerinnen. Bei Männern beträgt der Unterschied elf Jahre.

Die Verbesserung der Lebensverhältnisse dürfte also erfolgversprechender sein als die Verordnung von Diätprogrammen. Das hat auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin erkannt. In ihrer S3-Leitlinie weist sie auf Seite 29 darauf hin, dass es keine Diät gibt, mit der sich langfristig abnehmen lässt. Nach unzähligen erfolglosen Abnehmprogrammen und gesundheitsschädigenden Jo-Jo-Effekten eine notwendige Richtigstellung. (Günther Brandstetter, 6.5.2019)