Gerhardt Kellermann fotografierte den Münchner Designer Stefan Diez, der an der Wiener Angewandten Design lehrt.

Foto: Gerhardt Kellermann

STANDARD: Einer Ihrer Vorgänger an der Angewandten, der Frog-Gründer und frühere Apple-Designer Hartmut Esslinger, sprach vor einigen Jahren davon, seine Studierenden frei und wild denken zu lassen. Wo sind die Grenzen?

Diez: Ich schätze die jetzige Generation von Studierenden so ein, dass sie nicht von sich aus den unbändigen Wunsch hat, möglichst frei und wild zu sein. Ich verallgemeinere das jetzt etwas, habe aber den Eindruck, dass man sie eher ermutigen muss, Grenzen zu überschreiten und Spielräume zu suchen.

STANDARD: Was vermuten Sie, steckt dahinter?

Diez: Der Wunsch nach Freiheit der Kreativen in den Generationen davor war die Reaktion auf ein starres, verkrustetes Umfeld, mit relativ festen Rollenbildern. Freiheit durch Wildheit, sogar Destruktion war ein Weg, sich davon zu befreien, um Platz für etwas Neues zu schaffen. Nach 20 Jahren Globalisierung und Digitalisierung muss dieses Umfeld den Jungen wie ein Dschungel vorkommen. Nun herrscht eher der Wunsch nach Ordnung und Kontrolle. Die Hinterlassenschaften der letzten Generationen werden von den Jungen verständlicherweise als Bedrohung gesehen.

STANDARD: Und die Jungen suchen nach Schutz?

Diez: Ja, es gibt heute kaum mehr geschützte Bereiche, innerhalb deren man Ideen für sich bis zur Reife entwickeln kann. Alles wird schnell und global veröffentlicht und dient anderen augenblicklich als Inspirationsquelle für neue Arbeiten. Man kann die Früchte der eigenen Arbeit also kaum für sich alleine in Anspruch nehmen. Dazu kommt der globale Wettbewerb in Berufen, die ortsunabhängig sind. Eine japanische Firma kann mich hier engagieren, wenn sie der Meinung ist, dass wir die Richtigen für den Job sind. Es gibt ja nicht einmal ein Zollsystem für den Export intelligenter Güter. Eine noch so komplexe, aufwendige und teure 3D-Zeichnung lässt sich per digitalen Datenaustausch in Sekunden überallhin verschicken.

STANDARD: Hat dieses Verhalten auch mit neoliberalistischen Tendenzen zu tun?

Diez: Ich denke schon. Die globale Freiheit für die einen geht mitunter zulasten anderer oder der Umwelt. Es gibt zwar nach wie vor eine gesellschaftliche Moral, aber viele globale Akteure stehen außerhalb der Gesellschaft. Sie fühlen sich nicht an die Moral gebunden.

STANDARD: Das klingt etwas vage.

Diez: Sagen wir es so: Wie können persönliche Entbehrungen oder das Verzichten auf Annehmlichkeiten in einem System funktionieren, in dem der Verzicht auf der einen Seite zu billigeren Preisen führt und der auf der anderen Seite den Konsum ankurbelt? Handelt man moralisch richtig, kann es sein, dass man von der anderen Seite dafür belächelt wird. Der globale Rahmen macht vieles relativ. Die Beurteilung, ob etwas gut oder schlecht ist, hängt fast immer vom Blickwinkel des Betrachters ab. Es ist schwieriger geworden, bei sich selbst anzufangen ...

STANDARD: Lernen Sie denn auch etwas von den Studierenden?

Diez: In gewisser Weise ja. Bei der Arbeit in meinem Münchner Studio geht es darum, die Grenzen des heute Machbaren auszuloten, während für die Studierenden diese Grenzen nicht unbedingt gelten. Es geht weniger darum, etwas kommerziell Produzierbares zu schaffen, sondern aus der Perspektive der angewandten Kunst Hypothesen aufzustellen.

STANDARD: Und die lauten?

Diez: Aus meiner Sicht sind Semesterprojekte dazu da, relevante Probleme oder gesellschaftliche Veränderungen zu thematisieren, und entscheidende Fragen zu formulieren.

STANDARD: Gut und schön, aber geht es auch konkreter?

Diez: Stellen Sie sich einen Haufen Kieselsteine vor. Bewegt sich einer, schiebt er die anderen auseinander, das Gefüge verändert sich und schafft Räume, die es vorher nicht gab. Aus meiner Sicht macht es mehr Sinn, sich mit diesen neuen Spielräumen auseinanderzusetzen, als schon im Studium den hundertsten Stuhl zu entwerfen. Daher beschäftigen wir uns jedes Semester mit einem übergeordneten Thema, von dem wir der Meinung sind, dass es in der heutigen Zeit große Relevanz hat. Wir besuchen Firmen, die auf das Thema spezialisiert sind, und laden Gäste an die Angewandte ein, die ihre Expertise einbringen ...

STANDARD: Können Sie eines Ihrer Designs als Beispiel für so einen Kieselstein nennen?

Diez: Nehmen wir das Bürosystem "New Order", das wir für die Firma Hay entworfen haben. Es begann als Regalsystem, mittlerweile lässt es sich an die Wand hängen, zur Kommode erweitern, mit Tischplatten ergänzen und zu ganzen Landschaften ausbauen. Das System reagiert auf Veränderungen in der Arbeitswelt und kann organisch an neuen Anforderungen wachsen. Es ist wie Lego für Architekten. Wir arbeiten seit über sieben Jahren an dem Projekt und verschieben die Grenzen immer weiter.

Das flexible Bürosystem New Order, das Stefan Diez für Hay entworfen hat, soll durch flexible Erweiterbarkeit Antworten auf die Fragen geben, die die Veränderungen in der Arbeitswelt mit sich bringen.
Foto: Gerhardt Kellermann

STANDARD: Und was ist der Kieselstein in der Geschichte?

Diez: Nachdem die letzten Jahre von Outsourcings und Globalisierung geprägt waren, sind aus traditionellen Herstellern fast durch die Bank Verleger geworden. Sie haben also die Produktion ausgelagert oder, wie bei neueren Firmen wie zum Beispiel Hay, erst gar keinen eigene aufgebaut. Für Designer bedeutet das, dass wir von unseren Partnern im Handel kaum mehr technische Unterstützung erwarten können. Andererseits ist es ihnen möglich, unterschiedlichste Hersteller, Prozesse und Materialien in ein Produkt zu integrieren, denn sie sind nicht durch ihre eigenen Fabriken beschränkt. Wir haben darauf reagiert und uns das fehlende technische Wissen nach und nach angeeignet. Heute können wir komplexe Projekte so weit im Studio entwickeln, dass wir nur noch die letzten Feinheiten mit dem finalen Hersteller erarbeiten müssen. Noch ein Beispiel?

STANDARD: Bitte!

Diez: Vor zehn Jahren habe ich für Saskia Diez (international bekannte Schmuckdesignerin, Anm.), meine damalige Frau, eine Reisetasche entworfen, die nur wenig mehr als 130 Gramm wiegt und dennoch locker 30 Kilo fassen kann, langlebig ist, gut altert und sogar recycelt werden kann. Uns ging es darum, ein Statement zum Thema Materialeinsatz abzugeben. Wir wollten den Wert der Tasche über deren intellektuelle Raffinesse definieren. Materialität im Sinne traditioneller Wertigkeit kam mir immer ordinärer vor.

STANDARD: Warum?

Diez: Wir lernen, dass Ressourcen nicht endlos vorhanden sind. Das heißt, wir sollten an Produkten arbeiten, die durch Raffinesse begeistern und nicht durch übermäßigen Materialeinsatz – Dingen, die nachhaltig produziert werden, langlebig sind und dabei auch ästhetisch zeitlos sind.

STANDARD: Zurück zur Globalisierung: Sie sagen, dass das Design heute zu oft im eigenen Saft kocht und zu wenig Bereicherung von außen erfahre. Das klingt paradox in Zeiten des Internets.

Diez: Ich glaube, es ist ein Fehler, wenn Designer ihren Beruf heute noch als einen rein künstlerischen verstehen und glauben, alles funktioniere über Intuition, Ironie und Form. Ich denke, dass Designer, die mit technischer Komplexität nichts zu tun haben wollen, bei bestimmten Herstellern nicht mehr ernst genommen werden. Man kann über die letzten Jahre beobachten, dass sich Design zusehends auf das handwerklich hergestellte und in der Konsequenz auf Möbel, Glas oder Keramikprodukte beschränkt. Klar sind Möbel ein relevanter Bestandteil, aber sie sind schon lange nicht mehr die Produkte, die unser Leben wirklich beeinflussen. Es sollte eigentlich um ganz andere Dinge gehen.

STANDARD: Sagen Sie als ausgebildeter Tischler!

Diez: Ich bin den Weg zwischen Handwerk und Industrie mehrfach gegangen und weiß sehr gut, warum mich der industrielle Teil heute mehr interessiert. Ich bin überzeugt, dass die faszinierendsten Produkte der Zukunft einen verhältnismäßig geringen materiellen Anteil, dafür einen größeren intellektuellen Anteil aufweisen werden. Wenn wir als Designer hierfür nicht nur die Verpackung abliefern wollen, müssen wir uns mit der Materie dahinter beschäftigen und der zunehmenden Komplexität gerecht werden, indem wir unsere Neugierde auch auf die Bereiche ausdehnen, die uns bisher komplett fremd sind.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel nennen, das diese Intellektualität einlöst?

Diez: Das Smartphone zum Beispiel. Denken Sie daran, wie viele Funktionen, dieses kleine Ding mittlerweile erfüllt. Und wie viele neue Produkte und Dienstleistungen entstanden sind, die erst zusammen mit dem Smartphone einen Sinn ergeben.

STANDARD: Bei all dem, was Sie sagen, muss auch die Industrie mitspielen. Ohne die läuft gar nichts. Sie bezahlt Ihr Honorar.

Bürosystem New Order
Foto: Gerhardt Kellermann

Diez: Als Designer arbeiten wir im Gegensatz zur Kunst immer mit einem Partner zusammen, der unsere Ideen produziert und verkauft. Wenn diesem Partner der Wert der Zusammenarbeit klar ist, dann können auch Forderungen auf den Tisch kommen. Ich sehe dabei kein Problem.

STANDARD: Sie können sich das mit Ihrem Namen auch leisten.

Diez: Ich habe das aber schon getan, als ich diesen noch nicht hatte. Ich war vermutlich naiv, aber immer schon recht ausdauernd. Ich kann mich an keinen Kompromiss erinnern, auch wenn es so manch leere Kilometer gab. Manchmal steht mir was ganz anderes im Weg: Ich habe einen unglaublich schönen Beruf, aber gelegentlich das Gefühl, mich dafür entschuldigen zu müssen. Das ist falsch. Ich komme aus einer Handwerkerfamilie, in dieser wäre es niemandem eingefallen, umsonst zu arbeiten, nur weil es Spaß macht. Am Ende ist die Bezahlung auch eine Frage der richtigen Kommunikation mit dem Kunden.

STANDARD: Sie sind für zehn Semester engagiert. Finden Sie diese Begrenzung richtig? Früher gab es unbefristete Professuren. Ihr Vorgänger Paolo Piva unterrichtete mehr als 25 Jahre an der Angewandten.

Diez: Ja, ich halte die Befristung für richtig. Es könnte so laufen wie beim Trainer einer Fußballmannschaft. Der bleibt auch nicht auf Lebenszeit und wechselt im Laufe der Zeit ein paar Mal die Mannschaft.

STANDARD: Sie hatten hier an der Angewandten viele berühmte Vorgänger, etwa Ross Lovegrove, Alessandro Mendini, Enzo Mari und Matteo Thun. Karl Lagerfeld unterrichtete die Modeklasse. Mit wem verbindet Sie am meisten?

Diez: Am meisten wohl mit Richard Sapper, er hat auch hier an der Angewandten unterrichtet. Ich war sein Student an der Akademie der bildenden Künste in Stuttgart und eine Zeitlang sein Assistent. Ich bewunderte sein vielschichtiges, detailliertes Wissen in den unterschiedlichsten Bereichen, und wie er bei der Arbeit auf die kleinsten Details achtete. Seine Neugierde und überhaupt seine Haltung zur Arbeit waren mir ein großes Vorbild.

Stefan Diez schätzt die junge Generation so ein, dass sie nicht den unbändigen Wunsch hat, frei und wild zu sein. Er selbst sieht sich in seiner Rolle als Professor auch als "Ermutiger".
Foto: Gerhardt Kellermann

STANDARD: Ein anderer Ihrer Vorgänger, Ross Lovegrove, meinte, das Problem beim Unterrichten sei das Springen von Projekt zu Projekt, das heißt, man weiß schon zu Beginn, was rauskommen soll. Ein Auto, ein Kuli, ein Tisch etc. Er meinte, der Prozess trete dabei in den Hintergrund ...

Diez: Ich verstehe Ross, das birgt in der Tat die Gefahr von Oberflächlichkeit. Wir wählen aus diesem Grund für jedes Semester nur ein Thema. Ich bin für zehn Semester engagiert. Also haben wir hier zehn Themen definiert, die wir für gesellschaftlich relevant halten. Das erste war das Thema Licht, das zweite Thema waren Beschläge.

STANDARD: Das Thema Beschläge ist gesellschaftlich relevant?

Diez: Die Verwendung von Beschlägen ist ein grundlegendes Prinzip mit kultureller Relevanz. Zudem bringt der Beschlag eine industrielle Logik in das handwerkliche Produkt und sorgt bei vielen handwerklich hergestellten Produkten dafür, dass sie überhaupt erst funktionieren. Egal ob es sich um den Schubladenauszug des Beschläge-Weltmarktführers Blum, um Knöpfe, Reißverschlüsse, Griffe oder Klettverschlüsse handelt. Diese Teile werden industriell in großer Stückzahl hergestellt, kosten wenig, haben aber einen maßgeblichen Einfluss auf das Große und Ganze.

STANDARD: Wie lautet das aktuelle Thema?

Diez: Ursprünglich sollte es sich ganz allgemein um das Thema Hospitality drehen. Jetzt aber fokussieren wir uns auf "to go", auch weil wir mit der Wiener Firma Do & Co einen sehr interessanten Partner aus der Wirtschaft gewinnen konnten. Unsere Essgewohnheiten verändern sich gerade sehr stark – sowohl, was wir essen, aber auch, wie wir essen. Ein Thema, mit dem wir uns insbesondere beschäftigen, ist Verpackung und der unglaublich große Müllberg, ein Nebenprodukt der "To go"-Kultur. Das Ganze fängt bei der Portionierung der Lebensmittel an und geht mit der Frage weiter, wie man Verpackung so bewerkstelligen kann, dass weniger Lebensmittel weggeschmissen werden. Eine andere Frage zielt darauf ab, wie wir mit Essen umgehen, das man unterwegs verzehrt.

STANDARD: Unterwegs zu essen sagt auch etwas über die Person aus, die das tut, oder?

Diez: Sie meinen: "Kann etwas von Wert sein, wenn es so beiläufig geschieht?" Ich würde das nicht sofort werten wollen. Die Prioritäten ändern sich, die Digitalisierung schafft neue Geschäftsideen, es entstehen neue Angebote, und wir alle probieren diese neuen Möglichkeiten aus. Es ist jedenfalls die richtige Zeit, sich dem Thema aus verschiedenen Richtungen zu nähern.

STANDARD: Reden wir vom Image des Designers. Für viele ist er immer noch der Typ mit der komischen Brille und der dreieckigen Uhr.

Diez: Sie meinen Typen wie Philippe Starck oder Luigi Colani? Das war eine besondere Facette des Designs. Eine relativ kleine, aber auch spannende. Andererseits: Wir sind angewandte Künstler, die Partner und Produzenten brauchen. Wir sind auf den Dialog angewiesen, das möchte ich meinen Studenten vermitteln. Generell verstehe ich Schule nicht als Elfenbeinturm, der ist der falsche Ort. Ich führe meine Klasse eher wie ein Studio.

STANDARD: Hartmut Esslinger zitierte vor seinem Abgang von der Angewandten nach China einen chinesischen Staatssekretär, der meinte: "China ist in Sachen Design ein Entwicklungsland, Österreich auch. Aber die Österreicher wissen es nicht." Stimmt das?

Diez: Typisch Esslinger. Ist Design nicht dann besonders gut gelungen, wenn man es nicht sofort merkt? (Michael Hausenblas, RONDO, 10.5.2019)