Ein Mann vor seinem zerstörten Haus in der Provinz Idlib: Die Zeche zahlen wieder einmal Zivilisten.

Foto: AFP / Omar Haj Kadour

Syrien ist wieder in den Medien, weil das syrische Regime mit russischer Unterstützung in den vergangenen Tagen wiederholt die sogenannte Deeskalationszone um Idlib, die auch in die Provinzen Aleppo und Latakiya hineinreicht, aus der Luft angegriffen hat: Wieder werden Zivilisten getötet und verletzt, wieder begeben sich Menschen auf die Flucht, die Uno warnt erneut vor einer humanitären Katastrophe. Das ist der sichtbare Teil. Viel weniger leicht auszumachen sind die Hintergründe und die Absichten der internen und externen Akteure in Syrien.

Die Vorgeschichte: Eine syrisch-russische Offensive auf die letzte große Rebellenenklave Idlib – wo neben von der Türkei unterstützten Gruppen auch islamistischen Extremisten Zuflucht gefunden hatten – wurde im Herbst durch eine russisch-türkische Vereinbarung abgewendet: Es wurde ein entmilitarisierter Gürtel um Idlib geschaffen, aus dem alle extremistischen Kräfte und die schweren Waffen abziehen sollten. Gemeint war damit die HTS (Hay'at al-Tahrir al-Sham), ein Name, hinter dem sich die zweimal umbenannte Nusra-Front verbirgt. Auch Assad-Gegner wie die USA stufen sie als Al-Kaida-zugehörig und damit als Terroristen ein.

Demilitarisierte Zone

Mit der Einrichtung der demilitarisierten Zone sollten die Angriffe aus dem Gebiet auf die russische Luftwaffenbasis Hmeimim abgestellt werden. Obwohl die Türkei ihre Zusage nicht innerhalb der ausgemachten Zeit voll implementieren konnte, blieben die Russen dabei. Mehr noch: Sogar als die HTS im Jänner ihr Einflussgebiet innerhalb der Zone ausweitete und dabei türkei-freundliche Rebellen verdrängte, brach das türkisch-russische Arrangement nicht zusammen.

Die Türkei und Russland haben sich, obwohl sie im Syrien-Krieg auf unterschiedlichen Seiten stehen, gemeinsam mit dem Iran im sogenannten Astana-Format zusammengetan. Moskau bemüht sich um die Beziehungen zu Ankara, schon allein, um die US-türkische Allianz zu schwächen, und ist dabei, wie der Verkauf des S-400-Flugabwehrsystems zeigt, nicht ohne Erfolg.

Ende April fand die zwölfte Astana-Runde statt (wobei die kasachische Hauptstadt inzwischen Nursultan heißt, nach dem abgetretenen Präsidenten Nasarbajew). Auch die Uno, namentlich Sondergesandter Geir Pedersen, sowie Delegationen des syrischen Regimes und der Opposition nahmen teil. Der einzige Punkt, auf den sich die Teilnehmer verständigen konnten, war jedoch die Kritik an der US-Anerkennung der israelischen Annexion der syrischen Golanhöhen, berichtete Al-Monitor.

Ansonsten konnte man sich mehr oder weniger nicht einmal auf eine Tagesordnung einigen: Moskau versuchte – vergeblich – Fortschritte in der Besetzung eines Verfassungskomitees zu erreichen, die syrische Opposition wollte den Gefangenenaustausch priorisieren. Und das Regime, mit iranischer Unterstützung, bestand darauf, vor allem über Idlib zu reden, wo es seine Kontrolle wiederherstellen will.

All diese Themen stehen natürlich zueinander in Beziehung: Wer wird bei politischen Verhandlungen über die Zukunft, also auch beim Schreiben der Verfassung, mit am Tisch sitzen? Diese Frage ist klarerweise damit verknüpft, wie stark welche Gruppe auf dem Boden aufgestellt ist.

Nullsummenspiel wird das keines, auch wenn das syrische Regime und Teheran das noch nicht einzusehen scheinen. Anders Russland: Entwicklungen im Norden an der türkischen Grenze bei Tal Rifaat in den vergangenen Tagen haben die Vermutung aufkommen lassen, dass hier ein russisch-türkischer Tauschhandel im Entstehen sein könnte.

Am Samstag kam es zu Gefechten zwischen türkischen Soldaten und syrisch-kurdischen Milizen bei Tal Rifaat im Norden der Provinz Aleppo. Tal Rifaat steht unter kurdischer Kontrolle, befindet sich aber nur 20 Kilometer entfernt von Afrin, das von der Türkei und "ihrer" Free Syrian Army kontrolliert wird.

Tal Rifaat gegen Idlib?

Wie es zu Jahresbeginn 2018 in Afrin der Fall war, so könnte Russland die türkische Übernahme von Tal Rifaat tolerieren, spekuliert etwa der gut informierte Ibrahim Hamidi in Asharq al-Awsat: wenn im Gegenzug Russland und das syrische Regime die Kontrolle zumindest über Teile des demilitarisierten Gürtels um Idlib (westlich von Jisr al-Shurur) bekämen. Dem Regime geht es dabei besonders um die strategischen Autobahnen M4 und M5, die Aleppo mit Hama und Latakiya an der Küste verbinden.

Parallel dazu verhandelt die Türkei aber auch weiter mit den USA über die ihr von US-Präsident Donald Trump versprochene Pufferzone auf syrischem Territorium an der türkischen Grenze – die ja ebenfalls den Zweck hätte, die Kurden der YPG von dort zu verdrängen. Für Ankara sind sie ein Teil der PKK.

Als – relativen – Ausgleich verstärkte der US-Syrien-Beauftragte James Jeffrey seine Bemühungen, diese Kurden in den politischen Prozess hineinzubringen. Das wurde bisher von der Türkei abgelehnt. Nach dem Scheitern in Astana soll nun das politische Dossier, also die Aufstellung eines Verfassungskomitees, zurück nach Genf wandern, aber Datum dafür gibt es noch keines. (Gudrun Harrer, 7.5.2019)