Viele Türken haben ihrem Frust in der Nacht auf Dienstag Luft gemacht.

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Wer in Istanbul gegen Ungerechtigkeit protestieren will, benutzt dafür traditionell Küchengerät. So war es auch in der Nacht auf Dienstag. Nachdem die Oberste Wahlbehörde (YSK) verkündet hatte, dass die Bürgermeisterwahl in Istanbul wiederholt werden muss, zogen tausende Menschen in den Hochburgen der Oppositionspartei CHP, Beşiktaş und Kadıköy, mit Töpfen und Pfannen durch die Straßen und schlugen mit Kochlöffeln darauf. Auch am Dienstagabend gingen die Proteste weiter. Beliebt war diese Protestform besonders während der Gezi-Proteste 2013.

Der CHP-Kandidat Ekrem İmamoğlu hatte die Wahl zum Bürgermeister der 16-Millionen-Metropole am 31. März knapp gewonnen. Zunächst lag sein Vorsprung bei 25.000 Stimmen, nach Neuauszählungen in einigen Bezirken war er auf 10.000 Stimmen geschrumpft. Unregelmäßigkeiten gab es bisher bei vielen türkischen Wahlen. Doch solange die AKP, der Regierungschef Tayyip Erdoğan angehört, in Führung lag, kam es nie zu einer Neuauszählung oder Wiederholung.

İmamoğlu verurteilte die Entscheidung der Kommission. "Ihr werdet sehen, wir werden gewinnen", sagte er noch am Montag zu seinen Anhängern. Erdoğans Kommunikationschef Fahrettin Altun begrüßte hingegen die Entscheidung der YSK. Es sei zu systematischen Verzerrungen gekommen, insofern sei eine Wahlwiederholung ein "Sieg für die türkische Demokratie".

EU fordert Einblick

Die EU forderte die türkische Regierung dagegen auf, so schnell wie möglich Einblick in die Gründe für die Entscheidung zu liefern. "Die Begründung für diese weitreichende Entscheidung, getroffen in einem höchst politisierten Kontext, sollte unverzüglich einer öffentlichen Untersuchung zugänglich gemacht werden", erklärten Außenbeauftragte Federica Mogherini und Nachbarschafts- und Erweiterungskommissar Johannes Hahn in einer gemeinsamen Erklärung. Thorbjørn Jagland, Präsident des Europarats, sagte: "Die Entscheidung des Hohen Wahlrats hat das Potenzial, das Vertrauen der türkischen Wähler in die Wahlbehörden schwer zu beschädigen."

Auch in den Social Media machen viele Türken ihrer Enttäuschung Luft. Twitter ist, seit die türkischen Medien weitgehend in Regierungshand sind, eines der Hauptventile für Kritik geworden. Dort posteten Tausende unter dem Hashtag #ysksatilmis ("gekaufte YSK"). Noch beliebter war allerdings #HerŞeyÇokGüzelOlacak ("Alles wird gut werden") – das versprach İmamoğlu am Montag noch bei einer Kundgebung seinen Anhängern.

Am Dienstag machte er sich auf den Weg nach Ankara, um dort das weitere Vorgehen mit seiner Partei CHP zu besprechen. Sie ist die größte Oppositionspartei und gilt als türkische Version der Sozialdemokraten. Zwar war aus den Kommunalwahlen Ende März die AKP wieder als stärkste Partei hervorgegangen, musste aber die Metropolen Ankara und Istanbul an die CHP abtreten.

Doch kein Regierungswechsel nach 25 Jahren

Es war das erste Mal seit 25 Jahren, dass es in Istanbul zu einem Regierungswechsel gekommen wäre. Für Erdoğan, der selbst seine Karriere als Bürgermeister von Istanbul begonnen hatte, bedeutete die Niederlage auch einen Gesichtsverlust. "Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei", hatte er damals gesagt. Der Termin für die Wiederholung der Wahl ist nun der 23. Juni.

Für die türkische Wirtschaft und insbesondere die Währung dürfte die Wahlwiederholung nichts Gutes verheißen. Noch am Wochenende hatte Finanzminister Berat Albayrak verkündet, sämtliche politische Entwicklungen seien bereits eingepreist. Tatsächlich stürzte die türkische Lira nach Bekanntgabe der Entscheidung der Wahlbehörde um über fünf Prozent ab.

Mit einem Verhältnis von eins zu sieben zum Euro nähert sich die Lira damit wieder ihren Tiefstständen vom vergangenen Sommer. Die türkische Wirtschaft steckt in einer Rezession, Arbeitslosigkeit und Inflation verharren auf einem Höchststand. Helfen könnten Investitionen aus dem Ausland – doch die dürften nach der Entscheidung vom Montag noch unwahrscheinlicher werden. (Philipp Mattheis aus Istanbul, 7.5.2019)