Kanzler Sebastian Kurz will schärfere Sanktionen gegen Mitglieder bei Verstößen gegen die liberale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

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Europa braucht nicht ein Mehr an Hetze und Spaltung, sondern Mut für kreative und innovative Lösungen für die Probleme unserer Zeit!

Illustration: Fatih Aydogdu

Die ehemalige Vizepräsidentin des Europaparlamentes Ulrike Lunacek (Grüne) reagiert in einem Gastkommentar auf die Pläne des Bundeskanzlers zu einer EU-Vertragsänderung.

Drei Wochen vor der Europawahl fällt Bundeskanzler Kurz auf einmal ein, dass es einige Neuerungen auf EU-Ebene nur über einen neuen Vertrag geben kann. Gab es nicht unlängst die österreichische Präsidentschaft? Wäre das nicht der ideale Zeitpunkt gewesen, die Führungsrolle für nötige Veränderungen zu thematisieren? Aber nein, da war ja der Migrationspakt zu kritisieren und Österreich im UN-Rahmen wegen des Rückziehers zu blamieren. Und da waren die vielen rassistischen und Nazi-Einzelfälle beim Koalitionspartner, um die sich der türkise Kanzler kümmern musste. Und, und, und ...

Also jetzt, drei Wochen vor der Europawahl, viel heiße Luft:

Kurz will die Institutionen verschlanken. Dabei übersieht er geflissentlich, dass schon der Lissabon-Vertrag vorsieht, dass die Anzahl der Kommissare gesenkt werden kann. Seine deutsche Amtskollegin Angela Merkel, von der er sich ja gar nichts abschauen möchte, hat sogar vor nicht einmal einem Jahr gemeint, sie könne sich vorstellen, dass "auch ein großes Land einmal keinen Kommissar stellen kann". Solche Überlegungen sind vom Bundeskanzler nicht zu vernehmen.

Auch für das Voranbringen der Ein-Sitz-Lösung Brüssel für das Europaparlament wäre die Ratspräsidentschaft geeignet gewesen. Das EP hat sich schon zigmal für einen einzigen Sitz ausgesprochen. Dort gibt es seit Jahren eine "Single Seat Steering Group", an der die Autorin dieser Zeilen über Jahre beteiligt war und die zahlreiche Vorschläge für Alternativnutzung des architektonisch gelungenen Gebäudes in Straßburg ins Gespräch gebracht hatte. Kurz' Mentor innerhalb der ÖVP, Michael Spindelegger, hatte sich gemeinsam mit dem damaligen Kanzler Werner Faymann geweigert, 2011 das Ansinnen der Delegationsleiter von ÖVP, SPÖ und Grünen im EP mit einer Stellungnahme beim EUGH zu unterstützen, zwei der zwölf im Vertrag für Straßburg vorgeschriebenen Sessionen des EP in eine Woche zu verlegen und damit einen Schritt in Richtung Beendigung des zeit- und geldraubenden Wanderzirkus zwischen Straßburg und Brüssel zu setzen. Motto: Man wolle es sich mit Frankreich nicht verscherzen.

Reine Wahlkampfrhetorik

So betrachtet, ist Kurz' Ankündigung reine Wahlkampfrhetorik. Wenn er das wirklich umsetzen wollte, müsste er zuerst, gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten, hinter verschlossenen Türen mit dem französischen Präsidenten Macron zu verhandeln beginnen und mit dem EP kooperieren. Die öffentliche Ankündigung wird Macron und die Stadt Straßburg nicht zum Umdenken bewegen, im Gegenteil!

Kurz will auch schärfere Sanktionen gegen Mitglieder bei Verstößen gegen die liberale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Da könnte er gleich innerhalb der EVP mit den Sanktionen beginnen und den "drei Weisen" Schüssel, Pöttering und Van Rompuy den Rat mitgeben, dass Orbán in der EVP nicht mehr tragbar ist und – als Signal – schon vor der EP-Wahl ausgeschlossen gehöre, damit er sich seinen neuen Freunden Salvini und Co widmen kann.

Auch zu diesem Thema hat das EP schon im Jahr 2016 einen weitreichenden Vorschlag verabschiedet, der mit dem "Pakt für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte" ein neues System der Überprüfung der Einhaltung der europäischen Werte vorschlägt: ein jährliches Monitoring aller Mitgliedstaaten, denn "nobody is perfect"! Damit könnte auch dem Gefühl des "Fingerzeigs aus Brüssel", der "Einmischung von außen", Einhalt geboten werden.

"Widerlich"

Dass Kurz außerdem erklärt, die Rechtspopulisten seien keine Verbündeten, mutet ziemlich skurril an: Schließlich sitzt er selbst mit ihnen in der Regierung und hat sich mit deren "widerlichen" (O-Ton Kurz) rassistischen, antimuslimischen, antisemitischen ständigen Einzelfällen auseinanderzusetzen.

"Die Veränderung von Österreich nach Europa tragen" (Kurz), das ist eine Drohung: eine Drohung gegen freie Medien; gegen Flüchtlinge, die etwas lernen und einen Beitrag zur Gesellschaft leisten wollen, die sie aufgenommen hat; gegen die kritische Zivilgesellschaft; gegen Frauen, die wieder verstärkt an den Herd gedrängt werden sollen; gegen kinderreiche Familien; gegen Andersdenkende; aber auch gegen den Klimaschutz (Milliarden an Strafzahlungen stehen ins Haus, die besser anderweitig ausgegeben würden, etwa um Armut – und nicht Arme – zu bekämpfen).

Europa braucht nicht ein Mehr an Hetze und Spaltung, sondern Mut für kreative und innovative Lösungen für die Probleme unserer Zeit!

Und es braucht mutige Politiker, die das Wohl der Bürger im Auge haben, und nicht das Schüren von Zukunftsängsten. Dafür wäre es wichtig, dass der Bundeskanzler es auch wagt, zwei Grundprobleme der EU ändern zu wollen: das Ende des Legislativrechts des Rates auf EU-Ebene, etwa in Form der Schaffung einer zweiten parlamentarischen Kammer, ähnlich der eines Senats, der mit Mehrheiten, gemeinsam mit dem direkt gewählten Europaparlament, entscheidet, keine Einstimmigkeit mehr! Keine Einstimmigkeit in Steuerfragen und in der Außenpolitik würde auch zentrale Kompetenzen klären: Im Europäischen Interesse müssten Steueroasen und Steuerbetrug innerhalb der EU abgeschafft werden, und eine wirklich gemeinsame friedenspolitisch orientierte Außen- und Sicherheitspolitik müsste ein Ende der nationalstaatlichen Alleingänge garantieren. Das erwarten auch die Bürgerinnen und Bürger. Eine europäische Armee ist definitiv keine Ansage für Konfliktprävention.

Nebenbei die Neos

So nebenbei sei auch der Vorschlag von Neos-Spitzenkandidatin Claudia Gamon, die Kommissionspräsidentin solle direkt vom Volk gewählt werden, zu kritisieren: Dieser Vorschlag nimmt dem Europaparlament die hart erkämpfte und im Lissabonvertrag verankerte Möglichkeit, die Kommissionsführung und die gesamte Kommission zu wählen – und damit den Begehrlichkeiten der Staats- und Regierungschefs, die sie hinter verschlossenen Türen auszumachen gewohnt sind, eine demokratische Entscheidung gegenüberzustellen. Mit öffentlichem Hearing im Parlament, versteht sich. Die Direktwahl hätte zur Folge, dass das Parlament ausgehebelt würde. Nötig wäre hingegen die Wahl von zumindest einem Teil der Europa-Abgeordneten über europäische Wahllisten, damit die innenpolitische Dominanz der Europa-Wahlkämpfe endlich zu Ende geht.

Wer Europa liebt, muss die Union ändern. Aber zu einem Europa für alle und nicht zu einem Europa für einige wenige. (Ulrike Lunacek, 8.5.2019)