London / Wien – Es herrsche ein weltweiter "Klimawandelnotfall", dem mit "raschen und dramatischen Gegenmaßnahmen" begegnet werden müsse: So begründete der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn am Mittwoch vergangener Woche seinen Antrag, dass das britische Unterhaus den Klimanotstand ausrufen solle.

Die Vorlage wurde angenommen – wenn auch nur als Oppositionsanliegen und damit als rein symbolische Deklaration. Doch damit sei das britische Parlament die erste nationale Abgeordnetenkammer, die sich zu diesem Vorhaben bekennt, sagt Hannah Elshorst von Extinction Rebellion (ER) Deutschland.

Im April war es zu Protesten von Extinction Rebellion auf der Wiener Ringstraße gekommen.
DER STANDARD

Null CO2-Ausstoß ab 2025

Für die seit neun Monaten aktive Bewegung, die inzwischen in zehn Ländern zivilen Widerstand praktiziert, um Druck für Maßnahmen gegen die Klimaerwärmung zu machen, sei das ein großer Erfolg, sagt Elshorst. Die Gruppe sei damit den gesetzten Zielen ein Stück näher gerückt, die da lauteten: Ausrufen des Klimanotstands auf der Ebene von Staaten, Verringern des CO2-Ausstoßes auf null bis 2025, Einberufen von Bürgerversammlungen, um zu entscheiden, wie das geschehen soll.

An der Dringlichkeit ihrer Forderungen lassen die drastischen Klimaschützer keinen Zweifel. "Sag die Wahrheit: Unser Planet liegt im Sterben", ist auf den Plakaten besorgter Demonstranten zu lesen, deren Foto auf der britischen Bewegungshomepage prangt.

"Beispielloser globaler Notfall"

Die Wissenschaft stelle klar, dass es sich bei der Klimaerwärmung um einen "beispiellosen globalen Notfall" handle, steht darunter. Die Erde befinde sich in einer "Situation von Leben oder Tod", eine "Massenausrottung" drohe. Der jüngste Bericht des UN-Weltbiodiversitätsrats IPBES, laut dem rund eine Million – und damit mehr als die Hälfte – aller Insektenarten vom Aussterben bedroht sind, scheint diesem Szenario zumindest nicht zu widersprechen.

2018 habe die Uno vor einer globalen Erwärmung von mehr als 1,5 Grad Celsius gewarnt – "aber wir steuern auf vier Grad plus zu", sagt Elshorst. Mit dieser Prognose bewege sich ER im "hohen rechten Tabellenbereich", kommentiert das die österreichische Meteorologin und Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb.

Desaster zu 20 Prozent wahrscheinlich

Vorhersagen wie diese würden "eine Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent" aufweisen, jene des UN-Weltklimarats IPCC hingegen "eine Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent". Jedoch, so Kromp-Kolb: "Der IPCC lag mit seinen Vorhersagen bisher immer unter den tatsächlichen Entwicklungen."

Um ihre Warnungen unter das Volk zu bringen, setzt Extinction Rebellion auf spektakuläre Aktionen, die über die Demonstrationskultur der Fridays for Future hinausgehen. In den Wochen vor Corbyns parlamentarischer Initiative etwa legten ER-Aktivisten stellenweise die Londoner City lahm.

Mit Kontaktkleber vor der Londoner Börse

Tagelang hielten Aktivistinnnen und Aktivisten wichtige Verkehrsknotenpunkte besetzt. Andere blockierten den Zugang zur Londoner Börse, indem sie sich mit Kontaktkleber an den Hausmauern und aneinander fixierten.

Kamen Polizisten, um sie zu vertreiben, so begrüßten sie diese freundlich, aber harrten aus. Setzten die Beamten an, um sie festzunehmen, ließen sie sich widerstandslos wegtragen. Pro Festnahme brauchte es je vier Einsatzkräfte. Bei "über 680 Festnahmen" sei das ein immenser Aufwand, zog die Londoner Polizei am 23. April Zwischenbilanz.

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Vier Polizisten pro Festnahme: Im April legten die Aktivisten von Extinction Rebellion tagelang die Londoner City lahm.
Foto: reuters

Friedfertige Taktik

Diese friedfertige Taktik geht auf Überlegungen des ER-Mitgründers Roger Hallam zurück, eines Studierenden am renommierten Londoner King's College. Er habe das "effektive Design radikaler Kampagnen" studiert, sagt Hallam, der seine Lehren in den sozialen Medien per Video verbreitet.

Wichtig sei, dass Demonstranten der Polizei stets entgegenkommend begegneten. Das "nicht nur friedliche, sondern betont freundliche Auftreten" sei eine in den letzten Jahrzehnten in Protestbewegungen beliebter gewordene Taktik, praktiziert zum Beispiel auch von Clowns bei G20-Protesten, meint die Wiener Politikwissenschafterin Sara Gebh.

"Verbreiterung der Diskurse"

"Die drastischen Forderungen von Extinction Rebellion können im Sinne einer Arbeitsteilung mit etablierten politischen Akteuren verstanden werden", sagt Gebh, die sich in ihrer Arbeit unter anderem auf Formen zivilen Widerstands spezialisiert hat. Das Einbringen von Maximalforderungen in die öffentliche Debatte führe zu einer "Verbreiterung der Diskurse".

Auf widerstandslosen Widerstand setzt man auch beim seit Jänner 2019 existierenden österreichischen Ableger von Extinction Rebellion. Etwa bei einem am 20. April international akkordierten Die-in, das in Wien in einer Filiale des Hamburgeranbieters McDonald's stattfand.

Respektvoll zur Polizei

Mit den Polizisten, die gerufen worden waren, um die Aktion zu beenden, sei man betont "respektvoll" umgegangen, schildern zwei ER-Aktivisten dem STANDARD: "Einzelne Beamte haben unsere Forderungen sehr interessiert." (Irene Brickner, 9.5.2019)